Leise und nüchtern - aber mit großer Wirkung.
von Farbwirbel
Kurzmeinung: Schirach schafft es immer wieder, die Gegebenheiten zu hinterfragen.
Rezension
Ferdinand von Schirach traut sich in seinem ersten fiktiven Roman an ein sehr schweres Thema – aber das ist für ihn nicht untypisch. Es geht um die Frage, inwiefern ein Mord nachvollziehbar ist, wenn er durch eine Gräueltat während der NS-Zeit motiviert wurde. Wann ist Rache verständlich?
Der Aufbau des Romans ist durchdacht. Erst wird dem Leser der Mord beschrieben und dann wird aus der Perspektive des jungen Anwalts Caspar Leinen berichtet, der aus Zufall den Mörder verteidigen muss. Durch Erinnerungen Leinens und Collinis wird die Erzählung zu einem Ganzen.
Es stellt sich im späteren Verlauf heraus, dass das Mordopfer sein Ziehvater Hans Meyer ist. Johanna, die Tochter Meyers ist verstört darüber, dass Leinen die Verteidigung Collinis annimmt. Dennoch brauchen sich Johanna und Leinen während des Prozesses gegenseitig, um zu verarbeiten, was sie über Hans Meyer herausfinden.
Der Leser und auch das Figurenpersonal wird über die Hälfte des Romans nicht darüber aufgeklärt, welches Motiv Collini hatte.
Die Verbindung zwischen Meyer und Collini liegt weit in der Vergangenheit: Collini musste während der NS-Zeit durch Meyer grausame Schicksalsschläge hinnehmen, woraus sein Rachedurst entstand.
Ganz leise und im nüchternen Ton klärt der Erzähler darüber auf, wie es dazu kam, das viele Befehlsausübende und Schreibtischtäter der NS-Zeit keinen Prozess erhielten.
Wie so oft bei Schirach wird der Leser allein mit der Frage gelassen, wie dieses Gerichtsverfahren zu bewerten ist. Wann ecken Moral und Recht aneinander und wie ist damit umzugehen? Wo bleibt das Hinterfragen?
Ich glaube, das könnten zentrale Fragen in Schirachs Werk sein und zwei, mit denen er sich selbst in seiner Tätigkeit als Anwalt oft auseinandersetzen musste.
Erstaunlich ist es, wie Schirach es schafft, Abbilder von menschlichem Verhalten zu zeichnen, die sehr echt wirken, und dabei vor allem keine abgesicherten, vorhersehbaren Wege entlang geht.
Schirachs Werke lassen mich immer wieder an meinem Gefühl für Gerechtigkeit zweifeln, aber auch an unserem Rechtssystem. Dafür bin ich dankbar, denn solche Denkanstöße, wie er sie gibt, erklingen nur noch selten. Leise und nüchtern, aber mit großer Wirkung.