Cover des Buches Siebentürmeviertel (ISBN: 9783462047646)
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Rezension zu Siebentürmeviertel von Feridun Zaimoglu

ein Erlebnis des Lesens der besonderen Art

von Buchwurmchaos vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Sehr gewaltig, düster und ernüchternd. Aber vor allem eins: Erstaunlich aktuell.

Rezension

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Buchwurmchaosvor 8 Jahren
"Siebentürmeviertel" nennt sich ein Stadtteil Istanbuls. Es ist ein Gebiet der Gewalt, der Straßenkämpfe, der Gruppierung und der Vergeltung.
In diesem Viertel landet der sechsjährige Wolf, nachdem 1939 dessen Vater aus Deutschland flieht. Vor der dortigen politischen Situation und Entwicklung. Wolf und sein Vater sind Christen, die in Istanbul bei einem ehemaligen türkischen Arbeitskollegen des Vaters unterkommen.
Dir türkische Familie ist gastfreundlich, nimmt beide mit beiden Armen auf, zumal Wolf einen gleichaltrigen Bruder in der türkischen Familie bekommt, doch die Ehre und die Sitte der Türken ermöglicht es dem deutschen Witwer nicht, länger zu bleiben. es gibt Gerede aufgrund der jugendlichen nicht- vermählten Tochter des Hauses.
Wolfs Vater trifft eine folgenschwere Entscheidung: Er überlässt Wolf der türkischen Familie und flieht nach Ankara, um sich dort alleine als Übersetzer durch zu schlagen.
Der Leser bleibt bei Wolf und erlebt dessen gewaltsame und düstere Kindheit und Jugend, in der vom Jungen ein fast schon schizophrenes Verhalten verlangt wird.
Der Gastvater wird zum eigentlichen Vater, vor allem, nach dem dessen Sohn überraschend verstirbt. Wolf ist Christ und wird von den Sitten und Gebräuchen weitgehend ausgeschlossen, muss sich auf der Straße trotzdem beweisen und kann mit dem christlichen Glauben nichts verbinden.
Er scheint aufgenommen und teil der Gesellschaft zu werden, aber ist er das wirklich? Zehn Jahre später hat sich das Blatt gewendet ....

So, zuerst möchte ich erwähnen, dass der Autor Feridun Zaimoglu eine sehr eigene art zu schreiben hat. Ich kannte den Schreibstil schon aus einem früheren Roman des Autors und wusste, worauf ich mich einlasse. Zaimoglu baut seine Werke nicht nach dem üblichen Schema, es ist keinerlei Spannung in den Kapiteln, sondern man liest so vor sich hin. Kleinigkeiten werden minutiös nicht langwierig, aber doch genau beschrieben, die eigentliche Geschichte befindet sich zwischen den Zeilen und wird oft erst in Lese Pausen ersichtlich.
Hier erzählt er eine sehr melodramatische Geschichte eines deutschen Kleinkindes, Fluchtkind in anderer Kultur, nie wirklich dazugehörig, heimatlos und ohne Wurzeln. Was diese Entwurzelung wirklich bedeutet, wird erst in späteren Jahren ersichtlich. Wolf kennt keine deutschen Sitten und Gebräuche, kann mit seiner Religionszugehörigkeit nichts verbinden und wird doch in seiner erzwungenen Wahlheimat niemals Teil der Gesellschaft werden.
Mir wurde oft Angst um ihn, und ich weiß auch nicht, wie lange er noch leben wird nach dem letzten Satz des fast 800 Seiten umfassenden Buches.
Wie aktuell kann man schreiben aus dem Jahr 1939? Zaimoglu dreht die Flüchtlingsproblematik einfach um, indem er die Zeit verschiebt. Jedem kritischen Leser sollte klar werden, wie wahr, wie unfassbar dramatisch vor nicht mal 100 Jahren die Geschichte für unsere Vorfahren war. Ähnliches habe ich schon von geflüchteten Amerika-Auswanderern gehört, die nie wirklich akzeptiert wurden.
Ich wünsche mir sehr viele Leser für dieses Buch, Leser, denen klar wird, welchen verdrehten Spiegel wir hier vor uns haben.
Für mich sicher nicht das letzte Buch des Autors.
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