Rezension zu "Única blickt aufs Meer" von Fernando Contreras Castro
Es gibt weiß Gott schönere Handlungsorte für Romane als eine Müllhalde in Costa Rica. Die ist real, Gran Área Metropolitana von Río Azul. Jahrelang rannten sich die Verantwortlichen die Köpfe gegenseitig ein, um dem Problem Herr zu werden. Zurückblieben klaffende Wunden und … der Müllberg.
Hier „lebt“ Única. Sie ist Taucherin. Ein Euphemismus, der am Zynismus nicht zu überbieten ist. Sie taucht im Müll der Stadt, des Landes, des Kontinents nach etwas Verwertbarem. Die Floskel „von der Hand in den Mund“ ist für sie existenzieller als für Andere. Den Regenbogen kennt sie nur als Schimmer in versuchten Pfützen. Nein, sie ist nicht glücklich. Und schon gar nicht zufrieden mit dem Wenigen, das sie hat. Das sind illusorische, perfide Urlauberweisheiten, denen es zu viel ist gründlich nachzudenken. Niemand ist zufrieden, wenn sich Träume am Materiellen festmachen lassen können.
Única lebt in ihrer Welt. Sie kreiert sich ihre Welt. Eine Welt, die auf Zwang und Drang basiert. Sie muss im Dreck wühlen, um überleben zu können. Ohne den Dreck unter den Fingernägeln (eines ihrer geringeren Probleme) ist die Basis keinen Hunger erleiden zu müssen. Única war einst Lehrerin. Schon allein deswegen wird sie von vielen hier respektiert. Immer, wenn sie Hilfe braucht, bekommt sie sie auch. Alle geben ihr Ratschläge. Spende ihr Trost, wenn ihr beispielsweise der Zugang zur Kirche verwehrt wird. In diesem Moment, als der Pfarrer ihr unmissverständlich klar macht, wer hier auf Erden das Sagen hat (kleiner Tipp: Es ist nicht Gott!), wird sie sich ihrer Situation bewusst. Sie ist Abfall. Umfeld, Arbeit, Person verschmelzen in diesem Moment zu einer unsichtbaren Masse.
Única lebt am Rande der Gesellschaft und schafft sich mit ihren Leidensgenossen eine eigene Gesellschaft. Man teilt, was man teilen kann. Selbst die Zahnbürste. Das hat Única eingeführt. Sie und die Anderen leben in ihrer Welt, aus der sie wohl niemals fliehen können werden.
Fernando Contreras Castro gibt denen, die wirklich auf dieser Müllinsel, auf dem Müllberg, im Dreck ums Überleben kämpfen müssen eine Stimme. Man darf nicht den Fehler machen und die große Erzählkunst des Autors mit romantisieren verwechseln. Keine Frage, jeder will hier raus. Doch das kostet. Wie aber soll jemand bezahlen, der selbst nicht bezahlt wird?! Es gibt ein Entkommen aus dieser Hölle. Doch ist der Preis dafür für fast alle einfach zu hoch. „Única blickt aufs Meer“ pendelt zwischen lauter Anklage und leiser Verzweiflung hin und her. Alle wissen, dass lauter Wehklagen keinen Sinn macht. Man muss selbst anpacken und schauen, dass der Tag mit einem Lächeln zu Ende gehen kann. Jede Träne ist eine Träne zu viel. Der Wille zum Überleben überwiegt jeden Rückschlag.