Ursprünglich im Jahr 1935 erschienen und damals durchaus widersprüchlich aufgenommen, ist der Roman „Grenadierstraße“ des jüdischen Rabbis Fischl Schneersohn nun erstmals aus dem Jiddischen übersetzt und im Wallstein Verlag veröffentlicht worden.
Der Roman beginnt mit einer sehr lebendigen Szene, die schon die Thematik des ganzen Buches beschreibt. Auf dem Berliner Bahnhof Alexanderplatz wartet eine große Menschenmenge, an ihrem Äußeren unschwer als orthodoxe Juden zu erkennen, auf die ersehnte Ankunft eines berühmten Rabbis aus Osteuropa.
Am Rande der Menge beobachtet Johann Ketner, der Protagonist des Buches, zusammen mit seiner Frau Helene das bunte Treiben. Johannes Ketner ist der Sohn eines reichen jüdischen Bankers, assimiliert. Mit der jüdischen Religion verbindet die Familie außer einem Synagogenbesuch an den hohen jüdischen Festtagen nicht mehr viel.
Es sind genau diese liberalen Juden, durch und durch rational denkend, denen die in großen Scharen aus Osteuropa nach Berlin kommenden orthodoxen Juden, die sich schwerpunktmäßig im Scheunenviertel niederlassen, ein regelrechter Gräuel. Denn sie befürchten, dass durch sie, ihr Aussehen und Verhalten, ihre Bräuche und Sitten genau jene antisemitischen Vorurteile und Ressentiments nationaler Deutscher wieder aufflammen werden, die sie doch durch ihre Assimilation zumindest zu dämpfen dachten.
Obwohl Johann eine aufgeklärte Erziehung erhielt, zieht es ihn doch immer stärker hin zu dem offen gelebten Glauben der Chassiden. Darin ist er wohl in vielem seinem literarischen Schöpfer Fischl Schneersohn ähnlich, in dessen Leben und Wirken osteuropäische und deutsch-jüdische Traditionen und Ideenwelten zusammentreffen. Der Roman beschreibt nicht nur das zunächst innerlich haltlose Leben von Johann bis er zu einem neuen Lebenssinn als Künstler findet, sondern bietet auch ein interessantes Panorama der jüdischen Lebenswelten Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts.