Rezension zu "Heute hat die Welt Geburtstag" von Flake
Was kann und darf Satire, wo ist ironische Überspitzung wichtig, um verkrustete Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen, und wird die Menschenwürde verletzt. Zweifelsohne ist die MeToo-Debatte wichtig, muss sexueller Missbrauch im Kulturbereich skandalisiert werden. Doch auch Frauen- und Männeremanzipation ist vor Machtmissbrauch nicht gefeit, wie es Camille Paglia, US-amerikanische Hochschulprofessorin und bekennende Lesbe, bereits Mitte der 80er-Jahre in »Die Masken der Sexualität« beschrieb.
Ob sich in der 2017 von Christian „Flake“ Lorenz eine Antwort finden lässt? Ich bekam es im Sommer 2023 in die Hand gedrückt, just als die Missbrauchsvorwürfe zu Rammstein in allen Medien diskutiert worden.
Die Antwort ist: Ja, auf jeden Fall!
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Deutschlands weltweit erfolgreichste Rockband ist erklärtermaßen ostdeutsch, hat ihr Wurzeln in der Punkszene der DDR, arglistig bewacht von der Stasi, und nach der Wende mussten sie sich ewig abmühen, bis sie endlich, mehr oder weniger zufällig, von mächtigen Managern der Musikindustrie hochgepäppelt wurden.
All dies beschreibt Rammstein-Pianist »Flake« amüsant und unterhaltsam. Das Buch las ich an einem Abend und dem anschließenden Vormittag in einem Rutsch. Es muss daran liegen, dass er Berliner ist, genau wie ich. Während ich Ende der 70er in meiner Kreuzberger Altbauküche, also Rostberlin, am selbst gebastelten Keyboard psychedelische Töne entlockte, der Drummer drauflos drosch und sich der Gitarrist sein Opiumpfeifchen zum Glimmen brachte, bevor im stets die gleichen drei Akkorde über einen Phaser an dem Amp schickte (als einziger Besitzer eines Verstärkers mussten wir das dulden), über der gute Flake drüben hinter der Mauer im Prenzlberg, d.h. Restberlin, brav Kadenzen und Sonatinen am Klavier einübte.
So jedenfalls entnehme ich es der Autobiografie von Christian Lorenz, der stets Außenseiter geblieben ist – und genau das macht die Faszination dieses unterhaltsamen Buches aus. Es ist klar strukturiert. Ein Erzählstrang spielt in der Gegenwart, von den Vorbereitungen zu einem gigantischen Rockkonzert in Budapest mit riesigem Equipment bis zur verpassten After-Show-Party und anschließender Reise zur nächsten Touretappe in Zagreb. Der zweite Erzählstrang beginnt eben in jenen 70ern, wo ich diesseits der Mauer musikalisch rumdillettierte und Rockstars wie David Bowie und Iggi Popp nebenan in Neukölln und Schöneberg ihre Platten aufnahmen. Davon konnte der gute Flake nur träumen. Aber immerhin, er hörte Tag und Nacht Sender Freies Berlin und nahm die paradiesischen Klänge des nichtsozialistischen Auslands mit seinem Ost-Kassettenrekorder auf.
Ein zweites Mal hätte ich mich mit Flake beinahe in den 90ern getroffen. Er und seine Rammstein-Gründungsmitglieder lebten von Arbeitslosengeld und trieben sich im Prenzlberg rum. Da war ich in mein Bauernhaus im Havelland gezogen und kam nur zum Wochenende in die Stadt. Ein Franzose spielte Free-Jazz auf der Klarinette, genau wie ich (bloß nicht so grässlich, ansonsten hätte mich sicherlich Flakes Feeling-B als Bandmitglied akzeptiert, deren Sound ebenfalls Trommelfelle platzen ließ). Also wie gesagt: André lud beim U-Bahn-Fahren Leute zu seinen Keller-Sessions in der Schönhauser ein, Lorenzo mixte gegen nachts um zwei Kir Royal und Sabinchen mit dem Cello schleppte ich hernach ab, ins Havellandhäuschen.
Flake und Co. hingegen übten wie der Teufel im stinkenden Keller der Kulturbrauerei. Und als ihnen das Arbeitsamt die Pistole auf die Brust setzten, verpflichteten sie sich bangen Herzens, nach Zahlung einer bescheidenen Summe niemals mehr Stütze kassieren. Wenn die Rammsteins damals nicht doch noch Staatsknete kassiert hätten, über den Senats-Rockwettbewerb, wären sie wohl zu ihren alten Hilfsjobs zurückgekehrt, als Kartenabreißer wie Flake, oder als Korbflechter in Mac Pom, wie der olle Lindemann. Genauso unverblümt, trocken und gnadenlos realistisch beschreibt es Christian Lorenz in »Heute hat die Welt Geburtstag« (natürlich ohne meine Wenigkeit, denn irgendwie sind wir damals aneinander vorbeigelaufen, vermutlich mit Currywurst in der Hand, denn die an der U-Bahn-Station dort ist einfach legendär).
Die Autobiografie des Keyboarders der weltberühmten Rockband, die trotz ausschließlich deutscher Songtexte sowohl in den USA als auch in Russland und sonst wo ganze Fußballstadien füllt, bietet detaillierte Einblicke in das Musikbusiness, verfasst aus erster Hand. Was die Faszination dieses Buchs ausmacht, ist jedoch einerseits die abgeklärte Sichtweise eines »gelernten DDR-Bürgers«, der zwar in jenem Land, in der er aufgewachsen ist, Punkrebell war und nichts mehr hasste als Stasi und Skinheads, sich andererseits von »Goldenen Westen« niemals blenden lässt, die hinter die Masken schaut, selbst im hautnahen Kontakt mit Ami-Superstars.
Und andererseits – hier komme ich auf die Eingangsfrage bzgl. Satire versus Menschenwürde zurück – hat sich Flake bei aller Provokation auf der Showbühne seine Außenseiterrolle bewahrt. Anstatt sich wie bei den eingangs geschilderten Konzertauftritten in Budapest und Zagreb in üblichen Showstar-Allüren zu produzieren und seine Position als Projektionsfläche für »Starfucker« hernach im Backstage-Bereich zu missbrauchen, ist er erklärtermaßen »Passant«, nutzt die Bandauftritte in Europa und Übersee für lange Spaziergänge, in denen er sich unter die ganz normalen Menschen mich, sich darüber freut, dass er nicht erkannt wird, teilweise als einer von ihnen angesehen wird. Jene inneren Monologe, die ihm dabei durch den Kopf gehen, auf Papier gebracht: Dies sind für mich als Leser die schönsten Passagen dieses beeindruckenden Buches. Nun gut, ich bin Berliner, genau wie Flake. Wir sind eigen ganz eigenen Spezies, ordinär und vulgär, geliebt und gehasst zugleich. Doch irgendwie respektiert man uns, traut man uns alles zu, haben wir Narrenfreiheit. Es wird daran liegen, dass wir, wie jüngst im November ’89, (es kommt mir vor wie gestern), schier unüberwindliche Mauern einreißen können ;-)