Cover des Buches Die Klasse von 77 (ISBN: 9783945715772)
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Rezension zu Die Klasse von 77 von Francis Kirps

Kindersekt- statt Bierernst

von ltrtrpunktde vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Kirps schert sich nicht darum, was Erwachsene & Kritiker lesen möchten - er hat einfach Spaß beim Schreiben. & wir beim Lesen!

Rezension

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ltrtrpunktdevor 7 Jahren

Wenn sich in einer Neuerscheinung ein kauziger Autor als Roger Wanderscheid vorstellt, Musikbands sich Namen geben wie „Die Toten Adenauers“ oder „Der letzte Wasserhahn“ und das Luxemburger Wort als „die dumme Zeitung“ bezeichnet wird, dann können wir (also die Schar der Luxemburgensia-Lesenden) uns einigermaßen sicher sein, dass Francis Kirps seiner schrulligen Phantasie mal wieder Freigang gewährt hat.

Das Ergebnis dieser imaginativen Freizügigkeit ist ein mit Schrägheiten vollgepfropfter Romanerstling, der den Titel „Die Klasse von 77“ trägt. Das Buch ist, wie schon die erste Veröffentlichung von Kirps, „Planet Luxemburg und andere komische Geschichten“ von 2012, im deutschen Verlag „Andreas Reiffer“ erschienen. Und manch einer wird es aufgrund des mehrfach toten Bundeskanzlers Adenauer bereits geahnt haben – es ist ein Roman, der sich in kindischer Vernarrtheit nur einem Thema hingibt, nämlich der Musik der 70er und 80er, genauer: den Punk- und Rockbands, von „The Dead Kennedys“ über die „Ramones“ bis hin zu „Motörhead“.

Die Hauptfigur ist neun Jahre alt und wohnt im fiktiven Piggeldingen, einem „3000-Einwohner-Kaff in der luxemburgischen Provinz“. Gleich zu Beginn des Romans stellt sie fest: „Da draußen war eine bunte, laute, gefährliche Welt, die, wenn nicht besser, so doch zumindest komplett anders war als die Welt daheim.“ Just dieses Bedürfnis nach Weite und Freiheit drängt den Protagonisten dazu, mit seinen Schulfreunden Ralphie, Krusti und Jean-Baptiste eine Punkband zu gründen. Sie haben weder einen Namen noch Instrumente, weder Musikkenntnisse noch große finanzielle Mittel. Kurzum: Sie haben von vielem nichts, und die gesamte Romanzeit werden sie darauf verwenden, gegen diese Lücken und Versäumnisse vorzugehen.

Sie überzeugen den vereinsamten Jungkaplan des Dorfes, bei ihm proben zu dürfen, indem sie sich als Messdiener anbiedern. Sie klauen eine geliebte Miniatur-Eisenbahnlok, die einem der Väter gehört, und tauschen sie gegen ein Schlagzeug ein. Ganz am Ende setzen sie sogar eine konkurrierende Band mit Schlafmitteln außer Gefecht, um an deren Stelle ein Konzert in der Kneipe „El paradiso“ spielen zu können. Diese und andere Episoden könnten den vielen Coming-of-Age-Erzählungen, die jährlich wie Pickel auf dem Buchmarkt hervorsprießen, zu einer Geschichte gereichen, die mit zielführender Verve ihr Personal erwachsen werden lässt.

Aber was wir bei „Die Klasse von 77“ nicht vergessen dürfen: Wir haben es mit vier präpubertären Neunjährigen zu tun, die nicht dem Komasaufen frönen, sondern sich mit Wasserpistolen bespritzen, die kein Auto knacken, um mit der ersten Freundin abzuhauen, sondern mit Plastikfiguren historische Schlachten nachspielen. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir diesem vierköpfigen Trupp einen fünften Jungen hinzuschlagen: den Autor selbst, der sich genauso quatschig, verplant und unbekümmert seinem Erzählprojekt widmet wie die Band sich ihrem Musikprojekt.

Über einen Schulkameraden befindet der Ich-Erzähler an einer Stelle: „Robert Schmidt war ohnehin einen Hauch exzentrischer, als es in unserer Gegend üblich war, aber es war eine entspannte Merkwürdigkeit an ihm, die von innen heraus zu kommen schien.“ Mir scheint, als träfe diese Beschreibung ebenso auf Francis Kirps zu, den wir als Poetry-Slammer, Herausgeber der Zeitschrift für komische Literatur „Der Exot“ und TAZ-Satiriker kennen. Und „Die Klasse von 77“ ist in diesem Sinne „entspannte Merkwürdigkeit“ in Romanform.

Während die Punkband sich irgendwann auf den Namen „Die Wasserpistolen“ einigt und erste Demo-Tapes aufnimmt, gibt Ralphie der Hauptfigur bezüglich des Schreibens von Songtexten einen Rat: „Und schreib über Dinge, die dich bewegen, die dir Spaß machen, statt Punkte bei Erwachsenen sammeln zu wollen.“ Später wird der Protagonist, der übrigens im Laufe einer völlig überdrehten Aufnahmezeremonie des Enid-Blyton-Clubs den Namen „Francis“ erhält, folgende Verse abliefern: „Gummibärchen weinen nicht / man kann sie also essen / Gummibärchen sterben nicht / sie werden schnell vergessen.“

Statt Bierernst bietet Kirps uns also durchgehend Kindersekternst an. Und wie jeder Kindergeburtstag Erwachsene anstrengen kann, so gibt es auch in „Die Klasse von 77“ Passagen, die zu hanswurstig daherkommen. Weiter störend ist das letztlich aber nicht – zu belustigend ist das infantile Personal in seinen abwegigen Gedanken und seinen absonderlichen Aktionen, zu gut tut es, sich anstelle des Drills der Seriosität einmal knapp 300 Seiten der Laxheit und Albernheit hinzugeben.

Natürlich ließen sich Vergleiche zu anderen Romanen anstellen, die sich wie „Die Klasse von 77“ der Liebe zur Musik verschreiben, etwa Nick Hornbys „High Fidelity“, Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“ oder Guy Helmingers „Die Ruhe der Schlammkröte“. Aber ganz ehrlich: Damit nimmt der Kritiker sich und auch den Autor zu ernst – und tut damit keinem von beiden einen Gefallen. Der Roman schert sich nun mal nicht um die rigiden Kategorien der Erwachsenenwelt; er erzählt in seiner ganz eigenen schnellen und spaßigen Kindsköpfigkeit von den musischen und weniger musischen Merkwürdigkeiten in Punk-Piggeldingen.


mehr auf: www.ltrtr.de

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