Rezension zu "Der Weg in die Urkatastrophe" von Frank-Lothar Kroll
Auf weniger als 170 Seiten Text gelingt dem Historiker Jürgen Angelow eine brillante Analyse der Juli-Krise. Angelows schlankes, aber dennoch gehaltvolles Buch sollte auf keiner Leseliste zur Vorgeschichte und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fehlen. Die Stärke des Buches besteht darin, dass es sich der Juli-Krise auf verschiedenen analytischen Ebenen nähert. Angelow kombiniert zwei Ansätze, einen strukturellen und einen akteursbezogenen. Er bettet das Handeln der im Juli 1914 maßgeblichen Akteure in verschiedene Kontexte ein: Das europäische Staaten- und Bündnissystem vor 1914; Arbeitsweise und Gepflogenheiten der Diplomatie; Generationserfahrungen und Mentalitäten von Politikern und Diplomaten.
Ausgehend von dieser umfassenden Kontextualisierung kann Angelow zeigen, wie das verhängnisvolle Ineinandergreifen von langfristig wirksamen Faktoren einerseits und situationsbedingtem individuellem Handeln andererseits zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Durch die Verknüpfung der strukturellen Ebene und der Akteursebene vermeidet Angelow eine einseitige und vereinfachende Erklärung der Juli-Krise. Das Buch bewegt sich auf einem recht hohen Analyse- und Reflexionsniveau, ist aber dennoch verständlich geschrieben und gut lesbar.
Knapp und pointiert erläutert Angelow die Strukturen der Außenpolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Das Konzert der Mächte, das sich seit dem Wiener Kongress um die Sicherung des Friedens in Europa bemüht hatte, befand sich spätestens seit der Gründung des Deutschen Reiches im Niedergang. An die Stelle kollektiver Konfliktbeilegung und Friedenswahrung trat eine auf den Nationalstaat verengte Macht- und Interessenpolitik. Die einzelnen Großmächte verfolgten ihre Ziele entweder in Alleingängen oder zusammen mit Bündnispartnern, während das Konzert mit seiner Einhegungs- und Kontrollfunktion zunehmend an Bedeutung verlor. Neue Institutionen zur Konfliktlösung hatten sich bis 1914 noch nicht etabliert. Der Haager Schiedsgerichtshof wurde von den Großmächten nicht ernst genommen.
Angelow verweist auf ein interessantes Paradox: Nach 1870 begann eine Phase stürmischer Globalisierung. Die enger werdende Verflechtung von Staaten, Kontinenten und Volkswirtschaften führte aber nicht zur Entstehung einer Weltgesellschaft oder Weltkultur. Parallel zur Globalisierung vollzog sich eine prononcierte Nationalisierung von Außenpolitik. Jede Großmacht dachte zuerst an sich und erst in zweiter Linie an die Interessen über-nationaler Gemeinschaften. Nur deshalb konnte der Balkan zum neuralgischen Punkt Europas werden, wie Angelow zeigt. In Abkehr von der Praxis des europäischen Konzerts betrieben Österreich-Ungarn und Russland auf dem Balkan eine egoistische Interessen- und Klientelpolitik, die lokale Konflikte zusätzlich anheizte und zu Spannungen unter den Großmächten führten.
Von Bedeutung für das Verständnis der Juli-Krise sind auch die Funktionsmechanismen von Politik und Diplomatie sowie Herkunft und mentale Prägungen von Politikern und Diplomaten. Angelow zeichnet das Bild eines politischen und diplomatischen Milieus, das von Geheimniskrämerei, Verschleierungstaktiken, einer antiquierten Rhetorik sowie fehlender Kontrolle durch Öffentlichkeit und Gesellschaft gekennzeichnet war. Politiker und Diplomaten stammten entweder aus dem Adel oder hatten sich aristokratische Wertvorstellungen zu eigen gemacht. Pazifismus galt als "unmännlich", Kompromißbereitschaft als sicherster Weg zum Ehr- und Gesichtsverlust. Das um die Jahrhundertwende bereits anachronistisch anmutende Ehr- und Prestigeverständnis und die "Duell-Mentalität" des Adels wurden auf die Diplomatie und die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen. Um 1900 fand in allen Großmächten ein Generationswechsel statt. In Politik und Diplomatie dominierten fortan Männer, die eine energische, risikofreudige, prestigewahrende Außenpolitik befürworteten und den Krieg als legitimes Mittel der Politik akzeptierten. Besonders fatal wirkte die Kriegswilligkeit in Kombination mit Abstiegsängsten, von denen etwa die Eliten Österreich-Ungarns umgetrieben wurden. Im Sommer 1914 kam für die Wiener Führung nur ein Krieg gegen Serbien in Frage, und sie wurde darin von Berlin ausdrücklich bestärkt.
Nachdem er die Bündnispolitik, den Rüstungswettlauf und die Kriegsplanungen der Großmächte behandelt hat, wendet sich Angelow in den beiden letzten Kapiteln der Juli-Krise zu. Er stellt klar, dass alle fünf Großmächte für die Eskalation der Krise und den Ausbruch des Krieges verantwortlich waren, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Eine Haupt- und Alleinschuld des Deutschen Reiches konstatiert er nicht. Angelow konzentriert sich auf die Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen in Berlin und Wien, während Russland, Frankreich und Großbritannien in einer eher reagierenden Rolle gezeigt werden. Die Entscheidung über den Krieg fiel erst am Ende der Krise. Niemand, so Angelow, hatte den großen europäischen Krieg von langer Hand vorbereitet und listig ins Werk gesetzt. Der Krieg kam, weil die meisten Politiker und Diplomaten in der Krise kläglich versagten. Sie durchschauten den Ernst der Lage nicht und fanden nicht den Mut, auf die im 19. Jahrhundert so oft erprobten Instrumente des europäischen Konzerts der Mächte zurückzugreifen: Verständigung, Ausgleich, Kompromiss, Zügelung der eigenen Ambitionen zum Wohle übergeordneter Interessen.
Nach der Lektüre ist klar, dass für eine Erklärung der Juli-Krise und des Kriegsausbruchs zweierlei nötig ist: Eine detaillierte Rekonstruktion des Ereignisablaufs zum einen, zum anderen eine Untersuchung der verschiedenen Kontexte und Strukturen, von denen das Denken, die Weltsicht und das Handeln der Politiker und Diplomaten geprägt wurden. Mit anderen Worten: Eine Kombination von Struktur-, Mentalitäts- und Ereignisgeschichte, die gleichzeitig den menschlichen Faktor berücksichtigt.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2014 bei Amazon gepostet)