Mallorca zu Beginn der 1940er-Jahre: In einem Sanatorium kurieren die beiden jungen Männer Andreu Ramallo und Manuel Tur ihre Lungenerkrankungen aus. Beide umgibt ein Gefühl der Schuld, das sich auf ein Geheimnis ihrer Kindheit zurückführen lässt. Während Andreu versucht, im Leben wieder Fuß zu fassen und berufliche Perspektiven nach dem Aufenthalt im Sanatorium plant, steigert sich Manuel immer mehr in ein Geflecht aus religiösen Wahnvorstellungen und dem Wunsch nach Buße - mit verhängnisvollen Folgen für alle Beteiligten...
Blai Bonets "Das Meer" wurde in seinem katalanischen Original erstmals 1958 veröffentlicht und damit in einer Zeit, "als die eiserne franquistische Zensur Werke auf Katalanisch verbot, einschränkte oder verstümmelte." So erfahren wir es im sehr informativen und für das Verständnis fast schon unverzichtbaren Nachwort von Xavier Pla, das die im Kupido Literaturverlag erschienene deutsche Erstausgabe würdig beendet. Der fleißige Verlagsinhaber Frank Henseleit selbst sorgt für die deutsche Übersetzung und schafft es insbesondere in den eindringlichen und poetischen Landschaftsbeschreibungen Bonets ersten Roman auch für deutsche LeserInnen zu einem Erlebnis zu machen - wenn auch zu einem anstrengenden. Denn so schwierig die Übersetzung für Henseleit gewesen sein mag, so herausfordernd und komplex ist "Das Meer" für den Leser.
In vier verschiedenen Ich-Perspektiven, darunter mit Andreu und Manuel die der Protagonisten, sieht man sich vor allem den Gedanken und Innenwelten der Figuren gegenüber. Auf der Handlungsebene der Gegenwart passiert eigentlich nicht besonders viel. Es wird geblutet, gelitten, gestorben - mal mehr, mal weniger grausam. Zentral ist dabei der Umgang mit der Schuld. Beide Protagonisten haben oder werden sich schwerer Verbrechen schuldig machen. Erst mit den Rückblicken auf die Kindheit bzw. frühe Jugend der beiden werden die Zusammenhänge deutlich. Blai Bonet deutet viel an, lässt Lücken, wiederholt - und so ist es die Aufgabe der LeserInnen, dieses komplexe Puzzle zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
Einher mit der Frage nach der Schuld und dem Glauben der jungen Männer geht die sexuelle Identitätsfindung, die vor allem für Manuel ein unlösbares Problem wird. Manchmal fiel es mir schwer, zwischen den beiden Protagonisten zu unterscheiden, da die Figurenzeichnung in einigen Kapiteln nicht klar genug ist bzw. der erzählerische Ton der beiden sich zu sehr ähnelt. Sicherlich eine Schwäche des Romans, die dazu führte, dass ich über weite Strecken keine wirkliche Identifikation mit den Figuren aufbauen konnte. Auch fehlte mir in einigen Fällen die Vorstellungskraft und ich konnte die Bemerkungen der Erzählstimmen nicht immer deuten.
Und dennoch wirkt "Das Meer" nach. Nicht nur wegen des dramatischen und dann doch bewegenden Finales, sondern vor allem wegen der ständigen Traurigkeit, die den Text untermalt - und wegen der einzigartigen mallorquinischen Landschaftsbeschreibungen. Ich hatte nach der Lektüre das Bedürfnis, immer wieder über bestimmte Szenen zu sprechen, andere Szenen mal so und dann doch wieder ganz anders zu deuten. Sollte dies auch auf andere LeserInnen zutreffen, haben Blai Bonet und mit ihm der Kupido Verlag viel erreicht. Denn letztlich kann Literatur vieles sein: leicht, fröhlich, spannend oder wie in diesem Fall melancholisch und dunkel. Nur vergessen sollte man sie nicht. So wie auch die Ära der franquistischen Diktatur und Zensur nicht vergessen werden darf.