Buchserien sind eigentlich so gar nicht meins. Die entwickeln leicht so etwas wie einen Sachzwang auf die Autor*innen, so dass publiziert wird, obwohl man schon lange nichts Interessantes mehr zu sagen hat. Und dann wird generischer Kram geschrieben, der mich mehr verärgert als unterhält. Insofern war ich auch recht skeptisch, wird Frank Köhnleins Roman doch mit dem Label „Das dritte Hepp-Buch“ versehen. Dabei mache ich immer einen großen Bogen um Kommissar/Detektiv/Agent XYs zwölften Fall. Nun wird Frank Köhnlein aber im Starks-Sture Verlag veröffentlicht. Und damit ist der Fokus schon mal ein ganz besonderer. „Das Verlagsprogramm umfasst Bücher zu psychologischen Themen, mit dem Ziel, auch komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen und den Leser:innen authentische Einblicke in solche zu gewähren.“ Und wenn man Sozialpsychologie studiert hat, fühlt man sich da ja auch irgendwie angesprochen. Frank Köhnlein wiederum ist Psychiater, genauer Kinder-und Jugendpsychiater u.a. mit dem Schwerpunkt Selbstverletzungsverhalten. Und spätestens hier ist dann auch eine Warnung für psychisch Vorbelastete angebracht. Geht es doch bei Krankmachen wie bei den anderen beiden Hepp-Büchern um Köhnleins literarisches Alter Ego Paul Hepp. Einen Kinder- und Jugendpsychiater, der auf alle denk- und undenkbaren Verhaltensweisen stößt.
Tour de Force durch die ICD-10
Bei Köhnleins dritten Roman Krankmachen trifft Hepp möglicherweise auf das „Münchhausen-by-Proxy“-Syndrom. So genau weiß man das am Anfang nicht. Im Vorgänger und Romandebut Vollopfer begegnet Hepp Borderlinern, Autisten und Mutisten. Während im zweiten Teil Kreisverkehr die allgegenwärtige Depression und selbstdestruktives Verhalten im Vordergrund stehen. Und immer wieder schafft es Köhnlein uns klar zu machen, dass die eigentlich und wirklich „Kranken“ die Erwachsenen sind, die die Kinder und Teenager zu (lebenslangen) Opfern machen. Denn bei Hepp und Köhnlein stehen die Patient*innen im Mittelpunkt, auch wenn es meist um Hepp und seine Sicht, seine Erfahrungen und seine Fehler geht. Aber die große unsichtbare Protagonistin ist die Empathie für die Betroffenen. Das ist neben dem Unterhaltungswert der größte Gewinn der Trilogie. Selten habe ich eine dermaßen realistische, wie ehrliche Binnenperspektive von Jugendlichen gelesen. Derb. Heftig. Und Deftig. So wie (psychisch beeinträchtigte) Jugendliche eben sind. Und dabei ist der Blick auf die Jugendlichen zugleich immer respektvoll.
Köhnlein betreibt mit seinen Romanen quasi Supervision, auch ein Psychiater muss schließlich irgendwo mit den ganzen Emotionen hin. So steht der Alltag als Kinder- und Jugendpsychiater fraglos Pate und liefert wohl auch den Großteil der Geschichten, wenn sicherlich auch literarisch verdichtet. So zumindest meine Hoffnung. Andererseits weiß man als Sozialwissenschaftler natürlich auch, dass alles was denkbar ist, unter Menschen auch tatsächlich zu finden ist. Köhnlein rahmt seine Erfahrungen mit menschlichen (Ab)Gründen mit einer Kriminalgeschichte. Jetzt also auch noch ein Krimi. Ein Genre, dass ich eigentlich grundsätzlich ignoriere. Seit Sherlock Holmes hat sich nichts Wesentliches mehr in diesem Genre getan (klar, ungerechtes Fundamentalurteil). Nun ist Köhnlein glücklicherweise aber kein Kriminalkommissar, sondern eben Psychiater und dementsprechend liegt der Fokus auch nicht auf langweiligen, tausendmal gelesenen und gesehen Ermittlungsarbeiten, sondern auf menschlichem Empfinden, Verhalten, Kommunizieren und Fantasieren.
„Weil das Unterbewusstsein lässt sich manchmal von da oben halt nichts sagen und führt uns von Überraschung zu Überraschung.“
Mit Frank Köhnlein bzw. mit Paul Hepp bekommen wir einen Einblick in die psychiatrische Psychotherapie, in die Lebenswelt von Jugendlichen und in das Thug Life (The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody von Rapper Tupac). Eine Formel die eine frappante Allgemeingültigkeit hat. Alles was wir Kindern und Jugendlichen (allgemeiner: Einander) antun, kommt wieder auf uns zurück. Und sei es als (selbst)zerstörerisches Potenzial der Betroffenen. Köhnlein wählt für seine Romane allerdings eine besondere Form der Präsentation. Die äußerst ernsten Themen kommen im locker leichtem Gewand des Humors daher. Und wie der von Köhnlein vielzitierte Freud bereits anmerkte, gibt es eine Wesensverwandtschaft zwischen Aggression und Humor. Lösen doch beide Anspannungen. Und so lässt uns der Autor nicht mit unserem angestauten Adrenalin allein, sondern lässt uns permanent schmunzeln und auch durchaus richtiggehend lachen. So man denn ein gewisses Faible für Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie hat. Sind die Anspielungen doch häufig für zumindest ansatzweise in eben diesen Fachrichtungen Erfahrene oder Geschulte gedacht.
„Weil im Wein liegt vielleicht viel Wahrheit, aber Klarheit liegt nicht darin.“
Was mich besonders gefreut hat, ist, dass der Humor weitestgehend ohne Fremdabwertung daherkommt. Höchstens die eigene Profession oder andere Etablierte werden aufs Korn genommen. Hier wird nicht auf Kosten der Schwächeren gelacht, wie es so häufig im deutschen „Humor“ der Fall ist. Hier herrscht ein intelligenter Humor, ein durchdachter Witz, selbst Sarkasmus wird zielsicher dosiert eingesetzt. Und in allen drei Romanen habe ich lediglich eine zynische Stelle gefunden. Das ist für knapp 600 Seiten Hepp-Romane eine Meisterleistung des Frohsinns und grenzt Köhnlein damit von unzähligen anderen „witzigen“ Autoren ab.
Genau genommen sind der Humor und die Einsicht in die psychiatrische Alltagswelt dermaßen großartig, dass ich mir gleich noch Hepp 1 „Vollopfer“ und Hepp 2 „Kreisverkehr“ gekauft habe. Trotz der teils heftigen, weil im Grunde wahren, Geschichten, haben mich die Romane bestens unterhalten. Und eigentlich sind es ja auch irgendwie Sach- und Fachbücher. Jedenfalls kann man einiges lernen und (wieder)entdecken. Man muss nicht unbedingt Hepps Mantra „es gibt keine Zufälle“ teilen, aber die Sinnhaftigkeit des Handels steht ja spätestens seit Alfred Schütz oder der Existenzanalyse Viktor Frankls außer Frage. Und da ist die Frage nach dem „Warum machen die das?“ sowohl Leitmotiv als auch Analyseinstrument. Wenn wir verstehen, dass selbst die absurdeste und skurrilste, ja brutal selbstzerstörerische Handlung eingebettet ist in einen (subjektiven) Sinnzusammenhang, dann ist schon viel gewonnen. Auch wenn wir es nicht ad-hoc nachvollziehen können, kann für die Betroffenen das Finger zusammennähen, Ritzen, Drogen nehmen, Feuer legen, promiskuitives Verhalten oder was auch immer, mehr oder weniger bewusst (meist natürlich weniger) Sinn ergeben, bzw. ohne Alternative sein.
Grandioser Überraschungs-Hit!
Da es gerade im Bereich von Psychologie und Psychiatrie eine sehr überschaubare Anzahl an Romanen gibt, ist Köhnleins Hepp-Trilogie eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre. Eines meiner absoluten Highlights dieses Jahr! Dabei ist der dritte Roman auch der beste Hepp, auch literarisch, weshalb ich tatsächlich empfehle auch mit diesem anzufangen. Die Reihenfolge spielt hier inhaltlich keine wirkliche Rolle. Und wenn man Gefallen am Hepp gefunden hat, dann will man eh auch noch die anderen beiden Romane lesen.
Allerdings muss man auch erwähnen, dass der Sprachstil von Köhnlein sehr gewöhnungsbedürftig ist. Nach den ersten 10 Seiten habe ich tatsächlich überlegt, das Buch zur Seite zu legen. Wer sich als Sprachpfleger fühlt, Duden-Purist ist oder dem Verein Deutscher Sprache nahesteht, wird hier ganz sicher nicht glücklich. Wer sich ein wenig offen zeigt für Neues, Anderes und Ungewohntes wird nach kurzer Verwirrung schnell in den originellen Sprachstil hineinfinden und dann zweifelsohne belohnt werden. Der Stil ist die Verschriftsprachlichung von recht assoziativem, schnellem Denken, dass auch gerne mal ein Verb auslässt. Das „Ich“ weiß ja eh was gemeint ist. Das hat auch immer etwas von einem Gespräch unter Freunden. Parasoziale Beziehungen mit dem Autor. Tatsächlich entwickelt der Schreibstil, zumindest bei mir, eine bedenkliche Sogwirkung, so dass ich bereits beim zweiten Roman angefangen habe meine Rezension im Köhnlein-Stil gedanklich vorzuformulieren. Jetzt aber dann doch nicht, weil dann können Sie ja gar nicht mehr folgen. Stellen Sie sich vor, da wird einfach das ein oder andere Tuwort, und dann weiß ich jetzt auch nicht, wie Sie das finden würden.
Also, unbedingt den Hepp lesen. Der hat so viele Leser*innen wie möglich verdient. Ein großer Dank gilt auch dem Starks-Sture Verlag, der nicht nur den dritten aktuellen Roman von Frank Köhnlein herausgibt, sondern auch die ersten beiden Hepp-Bücher neu aufgelegt hat (inklusive neuer Epiloge).
Und was sagt der Hepp selber, warum sind diese Geschichten so faszinierend?
„Die sind berührender, echter, die ziehen dich hundertmal mehr hinein, machen dich zum Teil des Ganzen, lassen dich mitleiden, lassen dich verzweifeln, staunen, lachen, die erschüttern dich wirklich, eben weil sie wirklich sind.“