Die Autorin Sigrid Falkenstein stößt zufällig auf die Spuren der Vergangenheit, der Name Anna Lehnkering taucht bei Recherchen zur Familiengeschichte im Internet auf und sie stellt erschüttert fest, dass es sich um ihre Tante Anna handelt. Anna steht auf der Liste der durch die „T4-Aktion“ ermordeten Menschen, die zwischen 1940 und 1941 von den Nazis als „unwertes Leben“ und „Ballast“ bezeichnet und vernichtet wurden. In der Berliner Tiergartenstraße 4 (daher die Abkürzung T4) wurde aus der lange schwelenden Idee der Rassenreinheit ein Plan, der wahrscheinlich über 70.000 Menschen das Leben kostete. Unzählige andere wurden zwangssterilisiert oder für medizinische Laborversuche verstümmelt und für immer krank gemacht.
Die Autorin kennt bis zu diesem Zufallsfund im Jahr 2003 nur ein Foto von Anna, in der Familie geschah das, was man lapidar mit Verschweigen und Verdrängen bezeichnet. Sigrid Falkenstein aber will das nicht länger hinnehmen und beginnt mit einer bespiellosen Suche nach der Wahrheit. Diese führt sie durch Institutionen und Archive, sie lernt Frank Schneider, einen ausgewiesenen Experten zum Thema Euthanasie kennen, sie begegnet auch vielen Personen auf ihrem Weg, die eigentlich auch lieber verdrängen und vergessen würden, was in der Nazizeit geschah. Das Thema „Datenschutz“ nutzen viele noch immer als Schutzschild. Mich erinnert diese fieberhafte Suche an meine eigenen Erlebnisse bei der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte, umso mehr bewundere ich das Ergebnis, das in Form dieses Buches einmalig ist.
Sigrid Falkenstein nimmt sich in diesem Buch die künstlerische Freiheit, aus heutiger Sicht in rund 50 persönliche Briefe an Anna zu richten, ihre Geschichte, die Geschichte der Familie und die Ereignisse der Euthanasie im Dritten Reich zu beschreiben und am Ende die Entwicklung in Deutschland nach dem bis zum Jahr 2018 aufzuzeigen. Mehr als einmal stockte mir beim Lesen der Atem, obwohl ich gewiss mit den Details der „T4-Aktion“, mit dem Holocaust und den Naziverbrechen schon sehr vertraut bin durch meine eigene Recherchearbeit. Immer wieder muss ich anhalten beim Lesen und Anna ist mir so nah, als wäre sie auch meine Verwandte. Dieses Buch bereitete mir schlaflose Nächte und lässt mich noch immer nicht los.
Der Stil der Brief ist liebevoll und lässt den Leser an mancher Stelle glauben, dass die Autorin die lebendige Anna vor sich sieht, wenn sie schreibt. Das hübsche, schüchterne Mädchen, das als „erbkrank“ in den Krankenakten abgestempelt wird, erleidet ein so schreckliches Schicksal, zuerst wird sie zwangssterilisiert, dann in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, dass der Weg von dort in die ersten Gaskammern des Deutschen Reiches führt, ist von Anfang an klar. Aber wie das geschieht und was Anna erleiden muss, das muss jeder Leser selbst erfahren.
Anna ist nicht nur ein Opfer, sie ist ein Symbol dafür, dass wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen dürfen, nur wenn die grausame Wahrheit ans Licht kommt, und auch dort bleibt, kann sie hoffentlich verhindern, dass solche Verbrechen noch einmal geschehen.
Dieses Buch lüftet ein „Familiengeheimnis“, das das Leben der Autorin sehr nachhaltig beeinflusst und verändert hat. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man von solcher Art Erlebnisse nie wieder loskommt. Das Wissen, das man erlangt bei diesen Recherchen, die tief ins Persönliche gehen, bleibt immer präsent. Dass die Verlegung eines Stolpersteins für Anna tatsächlich wie ein spätes Begräbnis in der Erinnerung bleibt, das habe auch ich bei der Verlegung der Stolpersteine für meine Verwandten erfahren.
Meine Bewertung müsste eigentlich bei mehr als fünf Sternen beginnen, das geht leider nicht, es ist ein sehr wertvolles Buch, das ich sicher noch oft in die Hand nehmen werde. Danke, Sigrid Falkenstein, danke auch an den Co-Autor Frank Schneider!