„Hundert Wörter für Schnee“ von dem österreichischen Schriftsteller Franzobel ist bereits der dritte historische Roman den ich vom ihm lese, nach „Dass Fluss der Medusa“und „Die Eroberung Amerikas“. Ich bin ein großer Fan des Autors, denn es gelingt ihm immer wieder Romane zu schreiben, die auf realen geschichtlichen Ereignissen beruhen, hervorragend recherchiert sind und mit viel Wortwitz und einem unnachahmlichem Stil die Vergangenheit lebendig machen und gleichzeitig über Missstände in der damaligen Gesellschaft (meist die gleichen wie heute) aufklären.
Thematisch ist das Thema von „Hundert Wörter für Schnee“ auch in 2025 absolut hochaktuell, den es geht um die Ausbeutung von Grönländischen Ureinwohner:Innen durch amerikanische Entdecker und andere westliche Player, ein Thema das spätestens seit Trump gar keinen aktuelleren Bezug haben könnte. Im Fokus stehen dabei natürlich auch wieder reale Figuren: Der amerikanische Entdecker Robert Peary ist besessen davon als Erster den Nordpol zu erobern, seine Frau Josephine Peary unterstützte und begleitete ihn und war die erste weiße Frau, die in der Arktis überwinterte (die Treue ihres Ehemanns war ihr trotzdem nicht sicher, denn der gründete parallel eine zweite Familie mit einer Inuit-Frau). Pearys Rivale Frederic Cook behauptet wie Peary als erster Mann am Nordpol gewesen zu sein und der schwarze Matthew Henson ist als Begleitung von Peary zwar mindestens so weit gekommen wie die beiden anderen, wird aber natürlich in er geschichtlichen Berichterstattung im Vergleich weitgehend übersehen. Die eigentliche Hauptperson des Buches ist aber Minik Wallace, ein Inuit, der zusammen mit 5 weiteren erwachsenen Verwandten von Robert Peary im Kindesalter in die USA verschleppt wird, quasi als „Anschauungs- und Forschungsmaterial“. So menschenverachtend wie das klingt, gestaltete sich das Ganze aus und 4 der 6 Inuit starben in den nächsten Jahren zudem an Tuberkulose. Minik überlebte und blieb bis zu seinem (ebenso recht frühen) Tod ein Mensch auf der Suche nach seiner Identität, in America wurde er nie richtig heimisch, zurück in Grönland aber auch nicht mehr.
Der Roman hat mir wieder sehr gut gefallen, zeigt er doch einerseits die Auswirkungen des aus westlicher Sicht häufig romantisierten Kolonialismus, gleichzeitig werden aber auch die Charaktere und ihre im Nachhinein tragischen Obsessionen lebendig und auch der Humor kommt bei Franzobel nie zu kurz. Für mich wieder ein sehr unterhaltsamer historischer Roman, den ich auch Leser:innen empfehlen, die sich sonst nicht so für historische Romane begeistern, denn ich bin eigentlich auch kein großer Fan dieses Genres, aber die Romane von Franzobel haben mich bisher immer absolut abgeholt. Dieser Roman hat es bei mir auch geschafft, noch weiter zu Minik Wallace, Matthew Henson, Josephine und Robert Peary und Frederic Cook zu recherchieren, denn im typischen westdeutschen Geschichtserlebnis meiner Kindheit, bekam der Wettlauf um den Südpol immer viel mehr (ebenfalls romantisierte) Aufmerksamkeit als die Arktiserforschung.
Franzobel
Lebenslauf
Ein Leben gewidmet der Kunst: Franzobel, eigentlich Franz Stefan Griebl, geboren am 1. März 1967 in Vöcklabruck, Oberösterreich, ist ein österreichischer Maler, Dramatiker, Lyriker und Schriftsteller. Er absolvierte eine Ausbildung für Maschinenbau an der Höheren Technischen Lehranstalt in Vöcklabruck und studierte anschließend in Wien Germanistik und Geschichte. Schon damals begeisterte er sich für Theater und Schauspiel und war auch als Komparse am Burgtheater in Wien tätig. Seit 1989 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt mit seiner Ehefrau Maxi Blaha, die ebenfalls Schauspielerin ist, an wechselnden Orten, darunter Wien und Buenos Aires.
Alle Bücher von Franzobel
Das Floß der Medusa
Die Eroberung Amerikas
Hundert Wörter für Schnee
Einsteins Hirn
Rechtswalzer
Wiener Wunder
Lusthaus oder Die Schule der Gemeinheit
Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik
Neue Rezensionen zu Franzobel
Mein Lese-Eindruck:
Franzobel liebt historische Stoffe, und wenn sich seine Stoffe ein wenig abseits vom mainstream bewegen – umso interessanter für ihn und packender für seine Leser. Franzobels Recherchen sind akribisch und umfassend bis in die Details; sie halten in ihrer Zuverlässigkeit jeder Überprüfung stand.
In „Hundert Wörter für Schnee“ nimmt Franzobel seine Leser mit in die Zeit des Kolonialismus und den Wettlauf um die letzten weißen Flecker des Globus. Zwei Männer reklamieren für sich, als Erste den Nordpol erreicht zu haben. Der eine ist Frederic Cook, und der andere sein Landsmann Robert Peary, obwohl er, wie inzwischen gesichert ist, in einiger Entfernung vom Ziel umgekehrt war. Was ihn aber nicht daran hinderte, seinen Rivalen Cook öffentlich als Betrüger hinzustellen, obwohl Cook eine überzeugende Beschreibung des Nordpols zu bieten hatte.
Pearys Expeditionen zum Nordpol erzählt Franzobel mit viel Liebe zum Detail. Grönland wird der Ausgangspunkt seiner Expeditionen, und damit rückt Franzobel eine Insel ins Bewusstsein, die seit Trumps Amtsübernahme wieder im Zentrum kolonialer Begehrlichkeiten steht, auch wenn Franzobel selber dazu in einem Vortrag sagte: „Grönland ist kein Land für Trampeltiere.“
Auf Grönland treffen Peary und seine Mannschaft mit den Inughuit zusammen, die zum Volk der Inuit gehören. Zwei Kulturen begegnen sich, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Mir hat es sehr gut gefallen, wie Franzobel diese Begegnung erzählt: jeder hat nämlich Vorbehalte gegenüber den anderen, jeder fühlt sich der anderen Kultur überlegen und erhebt sich über deren Eigenheiten. Hier wahrt Franzobel sehr geschickt das Gleichgewicht und vermeidet eine platte Gegenüberstellung Zivilisation vs. Naturvolk. Vor allem vermeidet er jede Idyllisierung der Inughuit, sodass man sich als Leser fragt, was eigentlich Zivilisation ist. In der Darstellung dieses Aufeinanderprallens zweier unterschiedlicher Kulturen liegt eine der Stärken des Romans.
Eine andere Stärke liegt in der Zeichnung der Personen. Nicht nur Peary und Cook, die beiden Gierigen, die sich auch durch schwere Verletzungen nicht von ihrem Ziel abhalten lassen, sondern auch ihre Begleiter werden sorgsam betrachtet, allen voran Pearys Ehefrau Josephine oder Cooks schwarzer Diener Henson. Und schließlich das Kind Minik, das zusammen mit anderen Inughuit Peary nach New York folgt in der Hoffnung auf ein besseres Leben und dort aufwächst. Minik überlebt zwar den Ansturm ungewohnter, tödlicher Viren, aber er wird in den USA nicht heimisch werden. Auch in Grönland gelingt es ihm nicht, an seine ethnischen Wurzeln anzuschließen, und so bleibt er zeit seines Lebens ein Unbehauster, ein Heimatloser.
Franzobel kann wunderbar erzählen. Seine Erzählung ist gewürzt mit Humor und ironisch-kritischen Anmerkungen, die die koloniale Ignoranz der Arktisfahrer relativieren sollen. Immer wieder flicht er Begriffe, Vergleiche etc. aus der Neuzeit in seine Erzählung ein. Den Grund für diesen erzählerischen Kniff lesen wir am Ende des Romans. Aber die Absicht ist klar: Damit hebt der Autor die Vergangenheit in die Gegenwart und zeigt, dass die Vergangenheit gar nicht so vergangen ist, wie man als Leser meinen könnte. Im Gegenteil: er sensibilisiert damit seine Leser für aktuelle kulturelle Überheblichkeiten. Was allerdings momentan der amerikanische Präsident mit seinem Geschichtsrevisionismus erheblich direkter und polteriger auch erreicht.
Franzobels durchgängig witziger Ton ist gewöhnungsbedürftig. Er täuscht immer wieder darüber hinweg, dass Arktis-Expeditionen Unternehmungen auf Leben und Tod waren. Als Charakterisierungsmerkmal verwendet er Dialekte oder sprachliche Eigentümlichkeiten. Das funktioniert auch wegen der Fülle der auftretenden Personen. Wieso aber hat der Amerikaner Cook ausgerechnet einen böhmischen Akzent? Man wundert sich, aber es macht das Buch nicht weniger lesenswert.
Für mich war Franzobels Buch ein Buch über das Scheitern zweier miteinander verbundener Menschen: Robert Peary, getrieben von Ehrgeiz, und Minik, der sich mit seiner Entwurzelung nicht arrangieren konnte. Franzobel lässt ihn und sein Volk in diesem Buch weiterleben: „Wenn dieses Buch dazu beiträgt, die großartige Kultur der Inughuit zu verstehen und zu bewahren, ist schon einiges erreicht.“
Es ist die wahre Geschichte des Robert Peary, der im ausgehenden 19. Jahrhundert „der Erste“ am Nordpol sein wollte – ohne Rücksicht auf Verluste. Etliche Male hat er es versucht, nie ist es ihm gelungen.
Bei einer seiner Rückreisen von Grönland nach New York hat er den damals neunjährigen Minik und fünf weitere Inuit mitgenommen. Bis auf Minik, sind alle Inuit aufgrund von Krankheiten innerhalb kurzer Zeit verstorben. Sie wurden im Naturhistorischen Museum ausgestellt – auch diese Geschichte ist leider wahr.
Minik kommt in New York nur schwer zurecht. Jahre später kehrt er nach Grönland zurück, aber auch da kann er sich nicht mehr einleben und muss zurück nach Amerika.
Franzobel gelingt es mit der richtigen Prise Humor das Leben der beiden und etlicher anderer Protagonist*innen sehr plastisch zu erzählen – es entstehen beim Lesen großartige Bilder im Kopf.
Ich halte den Roman jetzt schon für einen der besten dieses Jahres. Auf über 500 Seiten wird so viel Wissenswertes über Grönland und ihre Bewohner*innen erzählt: es gibt etwa keinen Baum und keinen Busch in Grönland. Waisenkinder wurden damals umgebracht – niemand konnte sie versorgen, wenn die Eltern starben, so wurden sie getötet.
Es geht im Roman auch immer wieder um den Blick der Inuit auf die Amerikaner*innen (natürlich auch umgekehrt): was für ein primitives Volk, das weder an Geister glaubt noch mit ihren toten Verwandten Kontakt hält und ohne Scham Tabus bricht.
Ein wundervolles, lehrreiches, charmantes Buch, das ich wahnsinnig gerne gelesen und dabei jede Menge gelernt habe. Franzobel ist es wieder mal gelungen ein historisches Ereignis in eine Geschichte zu verpacken, die mich nicht mehr losgelassen hat. So spannend und auch emotional! Klare Empfehlung.
Gespräche aus der Community
Offiziell beginnt läuft die Leserunde ab dem 01.11.2017 und geht biszum Ende des Monats. Rezensieren ist keine Pflicht, aber bei der Challenge erhält man ein Los dafür.
Jeder liest mit seinem eigenen Leseexemplar, es gibt kein Buch zu gewinnen!
Es kann natürlich jeder mitmachen, der Lust dazu hat, auch wenn er nicht bei der Challenge angemeldet ist.
Eine kurze Info, wann ihr mit dem Lesen beginnen wollte, wäre schön, damit man die Leserunde besser abstimmen kann. Viel Spaß beim Lesen!
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