Fred Kondjyaro

 4,5 Sterne bei 4 Bewertungen

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Neue Rezensionen zu Fred Kondjyaro

Ein Ungetüm für Denker und Freaks

Fred Kondjyaro legt den Lesenden mit »Und das Findelkind erschien dem Zyklopen, der in Ketten schlief« ein Ungetüm von Roman vor. Wie Titel und Umfang es schon sagen, bewegt sich das Buch weit jenseits des Massengeschmacks. Es ist für Denker und Freaks, ja ich würde sogar sagen: Intellektuelle, es ist für Genießer der Sprache, es ist für Leute, die ihre Köpfe gerne in vertrackten, chaotischen Welten verlieren und politische Literatur mögen. Dieses Buch ist vieles, es ist oftmals zu viel, es hätte wahrscheinlich um mindestens 100 Seiten gekürzt werden können, es hat keine Plotlinie, es hat meine Rübe explodieren lassen, usw. usw., und es gäbe noch Kritikpunkte anzufügen … Aber ich habe es geliebt!

Nur schon der Prolog ist ein Monster für sich. Über 30 Seiten breitet Kondjyaro das Szenario der Stadt aus und erzählt gleichzeitig die subtile, subversive Geschichte einer Anarchistin. Großartig. Diese Menschlichkeit, diese Empathie für die Charaktere zieht sich durch das gesamte Werk. Es ist warm, es glüht. Nach dem Prolog folgen auf knapp 900 Seiten unzählige Charaktere – Revolutionäre, versprengte Jugendliche, Säufer und Kleinkriminelle, schräge Unterweltgestalten, Mütter und Väter und ihre kaputten Familien, Junkies, Aktivisten, Anarchisten, Faschisten, Cops etc. –, ihre Geschichten, Erzählungen, Verstrickungen und biografischen Fäden, die ich unmöglich zusammenfassen kann. Die Themen sind hochaktuell und erschütternd nah an unserer Gegenwart, die (erneut) ins Faschistoide zu kippen droht. Die bildhafte Sprache ist anspruchsvoll und auf höchstem Niveau und passt mit ihrem sozialkritischen Unterton hervorragend zu den Inhalten. Auch wenn es ausufert, auch wenn es ausfranst – für mich war das Buch in sich total stimmig und geschlossen.

Ich lege dieses Werk allen Lesenden ans Herz, die sich auf ein wahrhaft verrücktes, größenwahnsinniges, anspruchsvolles, politisches, aber tief menschliches Buch einlassen wollen. Mich hat es reich belohnt.

Zynischer Blick in eine Zukunft, die bald die unsere sein könnte

Fred Kondjyaros Roman „Und das Findelkind erschien dem Zyklopen, der in Ketten schlief“ zeichnet eine perspektivlose, zerrissene Welt, eine Dystopie, die leider – und das ist das Erschreckende – in naher Zukunft Realität werden könnte. Denn wir schreiben das Jahr 2041 – die Klimabewegung ist gescheitert, die Grenzen sind verriegelt, die Menschen sind auf der Flucht – immer auf der Suche nach einem besseren Leben. Erschreckend! In knapp 20 Jahren könnte so unsere Zukunft aussehen, das macht das Lesen des teilweise etwas verkopft daherkommenden Romans nicht gerade angenehm, so schonungslos nimmt er die Gesellschaft Schicht für Schicht auseinander. Dennoch schafft es Kondjyaro, den Leser  mit einer ordentlichen Prise Ironie und Zynismus bei der Stange zu halten, analysiert die Zustände, geht tief in ihre Struktur hinein und stellt sie bloß – die Unfähigkeit des Staates, die versprengten, zumeist jugendlichen Revolutionäre, die schon in jungem Alter desillusioniert und vom Weltschmerz zerfressen sind. Da ist Evolet, eine Anarchistin mit Hang zur Pyromanie, die sich zwischen Terror und ihrem eigentlichen Wunsch nach Pazifismus innerlich zerreibt. Da sind Arman und Naim, gerade der Schule entronnen, die ihre Wut gegen die Obrigkeit verbindet. Sie alle trudeln durch den Kosmos von Gewalt und Hoffnungslosigkeit und dem unbändigen Wunsch, diese als verloren geltende Welt zu retten. Genial sind die intelligenten Seitenhiebe des Autors auf das System, die dennoch einer gewissen Lethargie nicht entbehren. Ziemlich oft habe ich bitter aufgelacht, so schonungslos beschreibt er die Welt, in der wir – vermutlich – bald leben, wenn globaler Kapitalismus, verbunden mit der Jagd nach der bestmöglichen Rendite, das Mantra dieser Welt bleibt.

Das Buch ist nicht leicht zu lesen, auf über 800 Seiten beschreibt der Autor eine zerrissene Welt, die in sich selbst gefangen ist, eine Welt, die gnadenlos über uns hereinbrechen könnte, wenn wir jetzt nicht mit aller Kraft gegensteuern. Doch der Zyklop – in diesem Falle ein alternativer Stadtteil, der abgeriegelt werden soll, um die „subversiven Elementen“ einzuschließen und gnadenlos zu kontrollieren – schläft. Und Schlaf steht für Auferstehung und damit für Hoffnung. 

Experimentell, poetisch und tief berührend

Das Buch ist ein echter Geheimtipp. Es ist ein ebenso forderndes wie überforderndes Stück Literatur, das wirr und klug, zäh und vielschichtig, experimentell und tief berührend ist. 


Um die Qualitäten des Buches geniessen zu können, braucht es aber zunächst mal Durchhaltewillen. Die ersten 60, 70 Seiten sind sperrige Kost, es war für mich schwierig, mich in all den Gedanken, Reflexionen, Perspektiven und Charakteren zu orientieren. Ich dachte mehr als einmal darüber nach, diesen Schinken zur Seite zu legen. Die poetische, bildhafte Sprache hat mich aber von Satz zu Satz getragen und nach und nach fügten sich auch die Geschichten zusammen, ich gewöhnte mich an den collagenhaften, bandwurmartigen Erzählstil und erkannte, dass dieser Roman vor allem von Motiven, Atmosphäre und den Assoziationen der Charaktere lebt. Der Autor erzählt weniger nach vorne und mehr in die Tiefe. Auch werden einzelne Episoden immer wieder mit unterschiedlichen Stilen und Techniken präsentiert, die ich wahnsinnig kreativ und ausgezeichnet geschrieben fand. 


Das Kunststück des Romans besteht auch darin, dass diese Experimentierwut und das Überbordende den emotionalen Zugang zu den Figuren nicht hemmen. Im Gegenteil, die Figuren werden unglaublich detailliert und mit viel Einfühlvermögen beschrieben, immer wieder erfährt man biografische Eckpunkte, so dass ich für (fast) alle Charaktere Sympathien empfand. Und ihren Wegen durch die brodelnde Stadt bis zur letzten Seite gespannt und berührt folgte. Besonders die vier Jugendlichen sind mir richtig ans Herz gewachsen. Die Fülle an Themen und die Vielschichtigkeit haben mich tief beeindruckt und harmonieren ausgezeichnet mit der ausufernden, aber wunderschönen Sprache, die immer wieder eigene Bilder findet. Nicht zuletzt wartet das Buch mit unzähligen Gegenwartsbezügen und Reflexionen zum 20. Jahrhundert und zu politischen Bewegungen auf und denkt aktuelle Entwicklungen weiter. Das zentrale Motiv, das sich dabei durch fast alle Geschichten zieht, ist die Revolte: gegen die Eltern, die Schule, die Institutionen, das politische System, den Faschismus und Rassismus, die Gefangenschaft etc. 


Ich kann das Buch allen Lesenden empfehlen, die auf anspruchsvolle Literatur stehen und es akzeptieren können, dass sich nicht alle Geschichten auflösen und die Romanwelt stets Fragment bleibt.

Gespräche aus der Community

Du tauchst gerne in dystopische oder utopische Zivilisationsentwürfe ein? Du hast ein Faible für mäandernde Sprache und ausfransende Geschichten, die um komplexe Charakterporträts, atmosphärische Weltenskizzen und ihre Interaktionen kreisen? Literarische Experimente reizen dich? Dann gewinne ein Exemplar des Romans «Und das Findelkind erschien dem Zyklopen, der in Ketten schlief» als Hardcover.

31 BeiträgeVerlosung beendet
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Letzter Beitrag von  Fred_Kondjyarovor einem Jahr

Danke dir für die lieben Wünsche. Ich habe ca. 4 Jahre geschrieben, in der Freizeit halt und mit Unterbrechungen ...

Zusätzliche Informationen

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