Rezension zu "Und das Findelkind erschien dem Zyklopen, der in Ketten schlief" von Fred Kondjyaro
x_hopewellFred Kondjyaro legt den Lesenden mit »Und das Findelkind erschien dem Zyklopen, der in Ketten schlief« ein Ungetüm von Roman vor. Wie Titel und Umfang es schon sagen, bewegt sich das Buch weit jenseits des Massengeschmacks. Es ist für Denker und Freaks, ja ich würde sogar sagen: Intellektuelle, es ist für Genießer der Sprache, es ist für Leute, die ihre Köpfe gerne in vertrackten, chaotischen Welten verlieren und politische Literatur mögen. Dieses Buch ist vieles, es ist oftmals zu viel, es hätte wahrscheinlich um mindestens 100 Seiten gekürzt werden können, es hat keine Plotlinie, es hat meine Rübe explodieren lassen, usw. usw., und es gäbe noch Kritikpunkte anzufügen … Aber ich habe es geliebt!
Nur schon der Prolog ist ein Monster für sich. Über 30 Seiten breitet Kondjyaro das Szenario der Stadt aus und erzählt gleichzeitig die subtile, subversive Geschichte einer Anarchistin. Großartig. Diese Menschlichkeit, diese Empathie für die Charaktere zieht sich durch das gesamte Werk. Es ist warm, es glüht. Nach dem Prolog folgen auf knapp 900 Seiten unzählige Charaktere – Revolutionäre, versprengte Jugendliche, Säufer und Kleinkriminelle, schräge Unterweltgestalten, Mütter und Väter und ihre kaputten Familien, Junkies, Aktivisten, Anarchisten, Faschisten, Cops etc. –, ihre Geschichten, Erzählungen, Verstrickungen und biografischen Fäden, die ich unmöglich zusammenfassen kann. Die Themen sind hochaktuell und erschütternd nah an unserer Gegenwart, die (erneut) ins Faschistoide zu kippen droht. Die bildhafte Sprache ist anspruchsvoll und auf höchstem Niveau und passt mit ihrem sozialkritischen Unterton hervorragend zu den Inhalten. Auch wenn es ausufert, auch wenn es ausfranst – für mich war das Buch in sich total stimmig und geschlossen.
Ich lege dieses Werk allen Lesenden ans Herz, die sich auf ein wahrhaft verrücktes, größenwahnsinniges, anspruchsvolles, politisches, aber tief menschliches Buch einlassen wollen. Mich hat es reich belohnt.