George Surridge hat ein Problem. Ein Problem finanzieller Natur. Seine Frau Clarissa lebt auf zu großem Fuß, man gibt schon seit einiger Zeit mehr aus als man einnimmt. Noch dazu neigt George zum Glücksspiel und hat in letzter Zeit größere Summen verloren. Es muss also irgendwoher Geld aufgetrieben werden. Eine in Aussicht gestellte Erbschaft von einer wohlhabenden Verwandten wäre die Lösung. Würde seine Tante endlich das Zeitliche segnen, könnte George seine Schulden bezahlen. Die alte Frau ist schwer krank und hat wohl nur noch wenige Monate zu Leben. Doch George kann nicht warten, er will das Geld jetzt auf der Stelle haben. Und so kreisen seine Gedanken immer öfter um die Frage: was wäre wenn man ein wenig nachhelfen könnte?
Aber George Surridge ist kein machiavellistischer Intrigant oder kaltblütiger Psychopath. Obwohl er seiner reichen Verwandten den Tod wünscht, ist er gleichzeitig auch vom Gedanken abgestoßen. Er ist schließlich kein Mörder, sondern ein ganz normaler, eigentlich friedfertiger Mensch. Aber so wie die Zeit voranschreitet wird George immer ungeduldiger und bereit moralische Skrupel über Bord zu werfen.
George Surridge ist Zoodirektor in Birmington (vermutlich ein Pseudonym für Birmingham). Er liebt seine Arbeit. Wie in jedem Beruf gibt es Schwierigkeiten. Es ist nicht einfach Elefanten durch England transportieren zu lassen. Manchmal gibt es Sorgen mit der Belegschaft, George muss Menschen entlassen, aber trotz allem ist dies sein Traumjob. Wenn nur diese ständigen Geldsorgen nicht wären!
Die Beziehung zu seiner Frau hat sich seit einiger Zeit rapide verschlechtert, und als George die Bekanntschaft einer charmanten Zoobesucherin macht, erweist sich das für ihn als Segen und Fluch zugleich. George meint in der Frau eine Seelenverwandte gefunden zu haben, und was als Freundschaft beginnt, wird sehr schnell zu einer Liebesaffäre. Um diese zu verheimlichen muss sich der unglückliche Mann allerdings in weitere Schulden stürzen.
Antidote To Venom ist eine „inverted mystery“, ein umgekehrter Detektivroman, das heißt die Identität des Täters ist von Anfang an bekannt, für Spannung sorgt die Frage, wie es der Polizei gelingen wird ihm auf die Schliche zu kommen und ihn zu überführen. Als Erfinder diese Art von Detektivgeschichte gilt Crofts‘ Kollege R. Austin Freeman. Das bekannteste Beispiel stellt wohl die TV-Serie Columbo dar, in der immer am Anfang der Mord gezeigt wird. Der Leser hat in diesem Fall ein recht ambivalentes Verhältnis zum Täter, da er diesen ja bei der Durchführung seines Verbrechens beobachten kann. Dadurch, dass man den Mörder kennen lernt steht er einem in gewisser Weise näher als die ermittelnden Polizeibeamten und man ertappt sich dabei, dass man wünscht er würde davonkommen.
Dass ein Mörder als Sympathieträger in Frage kommen könnte, war für die viktorianische Zeit noch undenkbar. Als Autoren damit begannen Kriminelle in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, waren es zunächst Figuren wie der Meisterdieb Arséne Lupin, geschaffen von Maurice Leblanc, der lediglich Eigentumsdelikte beging und in erster Linie besonders wohlhabende und oft wenig sympathische Charaktere um ihr Vermögen erleichterte,
Im Goldenen Zeitalter der Detektivliteratur waren die Rollen auch klar verteilt: Auf der einen Seite der Detektiv, stellvertretend für die „friedliche“ Gesellschaft, auf der anderen der Verbrecher, der die harmonische Ordnung der Dinge gefährdet. Der Detektiv überführt den Verbrecher und stellt die gesellschaftliche Ordnung wieder her. Der Mörder bleibt immer eine Ausnahmeerscheinung, selbst wenn seine Motive nachvollziehbar sein sollten, sich ihm zu sehr zu nähern, würde bedeuten, die Grundpfeiler der Gesellschaft zu untergraben. Wenn man den Verbrecher zu sehr versteht, beginnt man seine Taten zu entschuldigen, und das darf natürlich um keinen Preis geschehen.
Freeman Wills Crofts ging also durchaus ein Wagnis ein, als er beschloss eine Handlung aus Sicht des Mörders zu erzählen. Allerdings war Crofts, wie Martin Edwards in seinem Vorwort zum Buch erzählt, ein tiefreligiöser Mann, der seinen Roman als christliches Werk über Schuld und Sühne betrachtete. Darauf spielt auch der Titel an, George Surridge wird durch Gier und Lügen vergiftet und kann nur durch ein Gegenmittel, nämlich Aufrichtigkeit und Demut geheilt werden. Das mag für den modernen Leser etwas altbacken wirken, aber ansonsten ist der Roman durchaus glänzend geschrieben und unterhaltsam, wenn man über das moralinsaure Ende hinwegsehen mag.
Dies ist ein weiterer Band der British Library Crime Classics, die es sich zum Ziel gesetzt hat, vergessene Autoren des „Golden Age“ zu neuer Bekanntheit zu verhelfen. Manche dieser Romane wurden nur in sehr kleiner Auflage vor langer Zeit veröffentlicht und gelten heute als begehrte Sammelobjekte. Wie immer ist das Cover wunderschön gestaltet, allein optisch sind diese Bücher schon den Kauf wert. Ursprünglich wurde Freeman Wills Crofts durch seine äußerst komplizierten, minutiös herausgearbeiteten Plots bekannt. Sein Seriencharakter Inspector French, war kein brillanter Spürhund, sondern ein hart arbeitender Beamter, der den Erfolg seinem Fleiß und der unermüdlichen Ausdauer zu verdanken hatte. French taucht auch diesmal auf, allerdings erst im letzten Drittel des Romans, hier wandelt sich die Geschichte zum traditionellen Detektivroman.
Obwohl vermutlich von Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ inspiriert besitzt Crofts‘ Roman längst nicht die psychologische Eindringlichkeit des russischen Klassikers und auch die kühle Spannung von Patricia Highsmiths „Der Talentierte Mr. Ripley“ wird hier selten erreicht, aber es wäre ohnehin unfair jedes Buch immer mit Meisterwerken vergleichen zu wollen. Krimi-Nostalgiker dürfen hier beherzt zugreifen.