Rezension zu "Den Teufel im Leib" von Raymond Radiguet
Wenn man den Verlagsangaben glauben darf, was bei Suhrkamp allerdings gelegentlich nicht empfohlen ist, wird in wenigen Tagen (angekündigt ist der 06.06.2016*)) eine neue Ausgabe dieses hinreißenden kleinen Bändchens erscheinen, die hiermit herzlich begrüßt werden soll. Es handelt sich um die Beschreibung der autobiographischen Liebeserinnerungen eines Vierzehn- bis Siebzehnjährigen, erschienen kurze Zeit bevor der dann zwanzigjährige Verfasser an Typhus verstarb. Das Erscheinen dieses Buches löste im Frankreich des Jahres 1923 einen veritablen Skandal aus. Der offensichtliche und vordergründige Anlass dafür war die auch in körperlichen Details realistische Beschreibung der Liebesbeziehung eines Gymnasiasten zu einer Mitschülerin, die später einen Frontsoldaten des ersten Weltkrieges geheiratet hatte, die Beziehung zu ihrem früheren Schulkameraden aber weiterführte. Ehebruch also, seinerzeit als solcher ein Skandal, und als Betrogener ein tapferer Verteidiger der Heimat. Das zweite Skandalträchtige war das Alter des Verfassers zu der Zeit der beschriebenen Ereignisse und des Entstehens des Romans. Eindeutig frühreif, war das Urteil vieler Zeitgenossen, das Werk eines früh Gereiften das weniger anderer. Das dritte Ungewöhnliche war, dass ein junger Autor zur Hochzeit der damaligen französischen Avantgarde sich der traditionellen Erzählweise des klassischen Romans bedient und damit in den Rang der literarischen Hochkultur seines Landes hineinkatapultiert hatte. Einfach so, und dann war er auch schon tot... und hatte damit die Vorbedingung für Weltruhm erfüllt.
Aber auch jenseits der erotischen Delicatesse seiner Darstellung war der Verfasser ganz schön frech (im Mindesten). Ein Beispiel schon auf der ersten Seite: [...] so musste ich als Kind ein Abenteuer bestehen, das schon einem Manne genug zu schaffen gemacht hätte. Und ich war nicht der einzige. Auch meine Altersgenossen werden an diese Zeit eine andere Erinnerung haben als die ältere Generation. Wer mir das schon im voraus verdenkt, vergegenwärtige sich doch, was der Krieg für so viele Halbwüchsige bedeutete: vier Jahre große Ferien. Wir wohnten in F..., am Ufer der Marne. (S. 7) Die berüchtigte Schlacht an der Marne wird auch vielen heutigen Deutschen zumindest dem Namen nach in historischer Erinnerung geblieben sein, und auch, dass sie vielen damaligen Franzosen nur wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in noch viel dramatisch näherer Erinnerung war. Die nationale Heldentat erlebt als große Ferien, das ging im damaligen Frankreich in weiten Kreisen nicht, und dies auszusprechen schon gar nicht. Auch die liberale, von Vertrauen und Kameradschaft gekennzeichnete Erziehung im Elternhaus des Protagonisten war vielen wohl ein Stein des Anstoßes, in einem Land, in dem bis weit in die Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts viele Kinder ihre Eltern mit Sie angesprochen haben. Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt der Amoralität des Romans, die von vielen heutigen Zeitgenossen nicht als im antagonistischen Sinne wieder, sondern als nach wie vor aktuell angesehen werden dürfte. Diese betrifft das Ende des Romans und wie es der Protagonist für sich nahezu beschönigt.
Dieser Roman ist also beides, ein Liebesroman und ein historischer Roman, mit dem Unterschied zu seinen aktuellen Genrependants, dass er in der historischen Zeit geschrieben wurde, in der er spielt, und dass die Liebesgeschichte eine auch in ihrer Amoralität authentische Problemgeschichte eines Heranwachsenden ist. Dies sei hier schon fast als Warnung angeführt, damit niemand der aktuellen Genrejünger da einen Fehlkauf macht... Allen anderen, vor allem jenen, die einen Unterschied zwischen Literatur und Kolportage machen, sei der Roman ans Herz (sic!) gelegt, mit dem Hinweis, dass es gelegentlich auch heute noch möglich ist, zu Herzen gehende anspruchsvolle und gleichzeitig ansprechende Literatur zu finden. Für seinen Freund und Zeitgenossen Jean Cocteau besaß Radiguet den Eigensinn eines schlechten Schülers und die Weisheit eines alten Chinesen, und war der alterslose Erzähler einer zeitlosen Geschichte.
04.06.2016 - Joachim Tiele
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*) Inzwischen verschoben auf den 06.09.2016 - bei den Witzbolden von Amazon kann man dieses Buch, das es bei bei Suhrkamp schon seit den Tagen Peter Surhkamps gibt, und das als Band 147 der Bibliothek Suhrkamp wiedererscheinen wird, noch nicht rezensieren, da es noch nicht erschienen ist... Dass sie es dort im System nicht kennen, liegt wohl daran, dass niemand, der eine ältere Ausgabe des Bändchens hat, es gebraucht verkaufen will... Also: Zuschlagen, sobald es das Buch dann wieder gibt; wer weiß, wie klein die Auflage diesmal ist... (Ergänzung: 18.07.2016 - J. T.) Inzwischen wird der 06.12.2016 als Wiederveröffentlichungsdatum angegeben... (Ergänzung: 18.07.2016 - J. T.)