Cover des Buches Der Besuch der alten Dame (ISBN: 3257230451)
Joseyras avatar
Rezension zu Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt

Der Besuch der alten Dame

von Joseyra vor 11 Jahren

Rezension

Joseyras avatar
Joseyravor 11 Jahren
„Geld regiert die Welt“ ist wohl eine der wahrsten, aber deshalb auch bittersten Aphorismen der Welt. Es fällt zunehmend schwer zu differenzieren, wo die Grenze zwischen Käuflichkeit und Moral liegt und wann das Geld gegen den gesunden Menschenverstand zu siegen vermag.
Denn obwohl der Glaube an bestimmte Wertmaßstäbe tief in unserer Gesellschaft verankert ist, gibt es zumeist einen Punkt, an dem man die eigene Moral dem Geld unterwirft. Dessen sind sich die Meisten gar nicht bewusst, oftmals wollen sie es auch nicht. Schließlich stellt es ein äußerst diffiziles Thema dar, vor allem, da es nicht selten schwerer ist, seine eigene Schwäche einzugestehen, als den Konflikt zu ignorieren. So spricht es von wahrer Kunst, wie Dürrenmatt mit seiner Tragikomödie Probleme aufzeigt und diese in einem literarischen Stück bewältigt.
Wir befinden uns in Güllen, einem kleinen Städtchen irgendwo in Mitteleuropa. Die Armut ist groß und die Erinnerung an einstigen Reichtum hängt den Bürgern schmerzlich nach. Einziger Ausweg scheint die Milliardärin Claire Zachanassian. Mit ihr als Investorin glauben die Güllener ihre Wirtschaft sanieren zu können. Wo Gott nicht helfen kann, soll eben eine andere Größe das Glück in die Stadt zurückbringen. Hoffnungsträger ist dabei der Krämer Ill, welcher mit der gebürtigen Güllenerin vor ungefähr 40 Jahren eine Beziehung führte. Tatsächlich wird den Güllenern auch eine beträchtliche Summe geboten, aber diese ist an eine schwerwiegende Bedingung geknüpft: Die Stadt und ihre Bürger erhalten eine Milliarde, wenn sie Ill umbringen.
Den humanistischen Werten folgend lehnen die Güllener zunächst das Angebot ab, aber die personifizierte Gerechtigkeit in Gestalt der Claire Zachanassian weiß, dass sie gewinnen wird. Und als wäre sie wirklich eine Parze, die das Schicksal bestimmt, zeichnet sich schon bald das kommende Ende des Dramas ab. In Aussicht des Geldes verfallen die Güllener einem Kaufrausch, die Schulden nehmen zu und Ills Tod wird allmählich unabwendbar. Ills Furcht aufgrund der zunehmenden Gefahr trifft aber trotz der angepriesenen Moral und Humanität auf kein Verständnis bei seinen Mitbürgern und die erhoffte Hilfe bleibt aus. Es folgt die Einsicht seiner Schuld und eine damit verbundene Akzeptanz des eigenen Schicksals, welches sich schließlich zugunsten der angekündigten Milliarde erfüllt.
Aber nicht nur dieses Ende, sondern das ganze Stück gleicht einem erhobenen Finger, einer stillen Mahnung, so, wie Dürrenmatt die Güllener seinen Lesern präsentiert.
Denn sie und nicht Ill oder Claire selbst sind es, in denen die wahre Kritik des Stückes zu finden ist, sondern in dem Rest, einem namenlosen Kollektiv, dass sich einzig durch seine Schwäche und Austauschbarkeit definieren lässt. Es ist ein Vorwurf an die Menschheit selbst, den Dürrenmatt an so an sein Publikum, ebenfalls eine anonyme Menge, richtet.
Im Gegensatz zu der Masse Claire ist wie eine Göttin absolut und unmenschlich, was nicht nur zuletzt durch ihre Prothesen und Herrschsucht impliziert wird. Wie auch in der Realität bleibt das Geld und die damit verbundene Macht, die hinter ihr steht, für den Leser unbegreiflich und wird deshalb vollkommen in das Groteske gezogen. Ihr Wort ist Gesetz, ihre Finanzkraft schafft eine Weltordnung und alles richtet sich nach ihrem Dekret, ganz einfach weil ihr Reichtum so unermesslich ist. Ihr Geld erhebt sie somit zu einer übermenschlichen Gestalt, deren Rachegelüste sich gegen Ill, einen aus der Masse richten. Seine Verbrechen liegt darin, Claire vor mehr als vierzig Jahren geschwängert und verleumdet zu haben, woraufhin sie zu einer Prostituierten wurde und schließlich ihren ersten Ehemann, den Milliardär Zachanassian traf. Durch Ill musste Claire zwar an den Abgrund der Gesellschaft treten, hat aber schließlich auch durch seinen Verrat ihre prometheische Machtposition erlangt. Seine Sünde macht Ill dabei weder zum Helden noch zu einer tragischen Figur, er ist nicht besser aber auch nicht schlechter als der Rest. Es ist aber auch nicht Ills Schuld und Schicksal allein, was dem Leser zu denken geben sollte, sondern das ganze Geschehen, der Weg zu seinem Tod.
Zutiefst ins Groteske gezogen macht Dürrenmatt diesen überhaupt erträglich, denn das Lachen bleibt einem im Halse stecken, sobald man genauer hinsieht und die Handlung mit Ernsthaftigkeit betrachtet. Weil es aber gerade eines solcher Themen ist, die man kaum auf eine andere Art wiedergeben und darstellen kann, als sie ins Lächerliche abzuwandeln, damit sie zumutbar wird, stellt es auf eben diese Weise einen gelungenen Anstoß zum Nachdenken dar.

Dürrenmatts Werk enthält so viele kleine Details, zahlreiche kleine Hintertüren in denen sich eine Verbindung, Andeutung oder ein Hinweis verbergen, dass es durchschnittliche Leser gar nicht in der Lage ist, alle diese zu erkennen. Es ist eine Schande, denn diese machen die Genialität der Gesamtposition aus, obgleich es dem Autor wahrscheinlich nur darauf ankam, dem Leser seine Kritikpunkte zu vermitteln. Nichtsdestotrotz ist das Drama „Der Besuch der alten Dame“ ein Stück, welches literarische Hochachtung verdient hat. Egal ob als verhasste Schullektüre oder geliebtes Bühnenstück, es erzielt in jedem Fall seine erwünschte Wirkung beim Publikum.
Denn wer fragt sich nachher nicht: „Hätte ich ihn auch umgebracht?“
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks