Rezension zu "Lebenslinien" von Fritz Oerter
Goldman, Proudhon, Bakunin. Die Namen hat man vielleicht gehört, auch wenn man nicht viel über die Geschichte des Anarchismus weiß. Im deutschen Zusammenhang sind die Personen schon deutlich unbekannter - Erich Mühsam und Gustav Landauer kennt man vielleicht noch durch die Münchner Räterepublik.
Aber auch in Deutschland gab es wichtige Figuren, die auch international vernetzt waren. Einer von ihnen ist der Anarchosyndikalist Fritz Oerter. Er ist heute so unbekannt, dass Wikipedia nur seinen Bruder kennt, der zwar politisch mit Oerter bei der SPD anfing, später aber der NSDAP beitrat.
Mit "Lebenslinien" besteht nun die Möglichkeit, mehr über den fränkischen Anarchosyndikalisten zu erfahren, der gut mit Emma Goldman befreundet war und die deutsche anarchistische Bewegung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts stark prägte - wofür er später von den Nationalsozialisten gefoltert wurde.
Leonhard Seidl hat in seinen Recherchen zu Oerter dessen unvollendete Autobiografie entdeckt, die in "Lebenslinien" mit ausgesuchten weiteren Quellen - Briefen, Gedichten, Tagebucheinträgen - vervollständigt wird. Man lernt also Oerter vor allem über sich selbst kennen und das ist wirklich lesenswert, denn Oerter kommentiert nicht nur sehr pointiert tagesaktuelle Geschehnisse wie den Untergang der Titanic, sondern weiß auch in Gedichten mit Sprache umzugehen.
Seidls Einordnungen am Ende des Buchs kontextualisieren Oerter - etwa, dass er zwar für freie Liebe eintrat, darunter aber nicht notwendigerweise Polyamorie verstand, sondern die freie Entscheidung füreinander. So blieb er selbst sein Leben lang mit seiner Frau Anna verheiratet. Auch Oerters kritische Auslassungen zu Gewalt fand ich beeindruckend, denn während in den USA nach der Hinrichtung einiger Anarchisten die Bewegung zunehmend auch Gewalt als legitim ansah, verwehrte sich Oerter dem scharf. Der Zweck heiligte für ihn ausdrücklich nicht die Mittel.
Wer historisch und/oder politisch interessiert ist, sollte sich dieses Buch unbedingt mal etwas genauer anschauen. Da es aber relativ wenig Hintergrundinformationen zur anarchistischen Bewegung enthält, sollte man bestenfalls schon etwas Vorwissen mitbringen. Ich bringe dieses Wissen zwar mit, hier hätte es aber gern noch etwas mehr Erläuterung zu Beginn sein dürfen, um auch "Einsteiger*innen" noch etwas mehr abzuholen.