Rezension zu "Die Wahrheit über den Fall D." von Fruttero & Lucentini
Die Meisterdetektive der Kriminalliteratur sind in Rom versammelt, um einen spektakulären Fall zu lösen, an dem sich schon Generationen von Detektiven, Schriftstellern und Wissenschaftlern die Zähne ausgebissen haben: das 'Geheimnis des Edwin Drood', das rätselhafte Ende des letzten Romans von Charles Dickens, dem sein plötzlicher Tod 1870 die Feder aus der Hand gerissen hat.
Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Maigret und Father Brown, das sind nur einige der berühmten literarischen Detektive, die nach Rom eingeladen wurden, um einen der berühmtesten offenen Kriminalfälle der Weltliteratur zu lösen: Das mysteriöse Verschwinden des Edwin Drood.
Ein japanischer Konzern möchte unvollendete kulturelle Meisterwerke komplettieren und hat dafür keine Ausgaben gescheut und extra einen eigenen Kongress einberufen.
Das italienische Autorenduo Fruttero & Lucentini hat hier ein postmodernes Werk erschaffen, welches ebenso gut von ihrem Landsmann Umberto Eco stammen könnte. Der Aufbau des Buches sieht folgendermaßen aus: Auf ein-zwei Kapitel des Dickens-Klassiker folgt jeweils ein Kommentar der Detektive, die das Gelesene untereinander diskutieren. Das Buch enthält also den gesamten Dickens-Roman, man bekommt also die Möglichkeit sowohl einen Klassiker als auch einen modernen Roman zu lesen.
Während die modernen Passagen aber, vor allem für Krimifans, höchst unterhaltsam sind (zumal auch einige weniger bekannte Ermittler der Detektivliteratur auftauchen, was naheliegt, dass die Autoren sich mit diesem Genre auskennen oder zumindest ausgiebig recherchiert haben, fiel es mir sehr schwer in den viktorianischen Roman hineinzukommen. Das Tempo ist äußerst schleppend, die langen und äußerst langweiligen Beschreibungen wollen kein Ende nehmen und die Dialoge sind so schwülstig und melodramatisch, dass man ernsthaft daran zu zweifeln beginnt, ob Dickens nun wirklich als literarischer Realist bezeichnet werden kann. Hätte es die spätere Zusammenfassung der Ereignisse aus der Sicht der Detektive nicht gegeben, hätte ich ehrlich gesagt manchmal ernsthaft Mühe gehabt, überhaupt zu begreifen, worum es dort gerade ging.
Ich erinnere mich, wie bezaubert ich damals als Kind von Dickens‘ „Große Erwartungen“ war. Von dieser Magie war hier nichts zu spüren. Vielleicht ist dies einfach ein weniger gelungenes Werk von ihm oder vielleicht hat sich mein persönlicher Geschmack auch seitdem stark verändert, ich weiß es nicht, jedenfalls kam das Ende fast einer Erlösung gleich.
Ein wirklicher Krimi ist Die Wahrheit über den Fall D. nicht, eher ein phantasievolles ironisches Spiel mit den Klischees der Detektivliteratur und den manchmal skurrilen Auswüchsen literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen. Interessant zu lesen, aber ich wünschte mir fast man hätte den Dickens-Text für den heutigen Geschmack umgeschrieben und modernisiert, so skandalös das auch klingen mag.