Rezension zu "Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus" von Gabriel Heim
Gabriel Heim ist der Sohn der jüdischen Ilse Winter, ehemals Schauspielerin in Berlin, und von Felix Gasbarra, einem umtriebigen Möchtegern-Kommunisten und Bonvivant. Er wächst ohne den Vater auf, bei seiner Mutter in der Schweiz. Und er findet jede Menge versteckter Erinnerungen nach dem Tod seiner Mutter. Schuhkartons voller Briefe, Karten, Dokumente. Aus diesem Konvolut und aus den Nachforschungen, die er in verschiedensten Archiven durchführt, entsteht dieses Buch.
Marie, die Großmutter, steht im Mittelpunkt der Geschichte. Sie lebt in Berlin und erlebt ab 1933 die schrittweise vollkommene Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Sie ist Witwe, aus heutiger Sicht einigermaßen wohlhabend, und lebt in der Landhausstraße 8. Ihre Tochter Ilse ist ein "Irrwisch" und macht nie, was die Mutter ihr rät und empfiehlt. Als die Nazis an die Macht gelangen, flieht sie aus Berlin und es beginnt eine endlose Emigration, die sie irgendwann in die Schweiz führt. Ilse hat die Beziehung zu ihrer Mutter auf Eis gelegt, selbst bei einem Kurzbesuch in Berlin, der damals noch möglich war, besucht sie die Mutter nicht. Als sie sich in Basel als Studentin etabliert, beginnt ein sehr reger Briefverkehr zwischen ihr und der Mutter, der hier im Buch sehr ausführlich wiedergegeben wird. Anfangs ist Marie noch hoffnungsvoll, schickt viele gute Ratschläge und berichtet vom Alltag. Aber fast jeder Brief bringt auch Informationen über die Verschärfung der "Juden-Gesetze" aller Art mit sich. Noch vor Ausbruch des Krieges begibt sich Marie auf eine Besuchsreise nach Basel, ist einige Zeit bei ihrer Tochter und macht mit ihr regelrecht Urlaub. Kein Gedanke, dass sie bleiben möchte, sie will nach Hause, dort ist alles, was sie besitzt, das will sie nicht einfach verlassen. Liest man mit dem Wissen von heute, dass Marie freiwillig in die Höhle des Löwen zurückgeht, kann man nur verzweifeln an der Naivität, von Ilse wie auch von Marie. Denn die Chance kommt nie wieder, regulär das Deutsche Reich zu verlassen, die Briefe von Marie werden von Tag zu Tag verzweifelter, aber Ilse macht sich fein, geht auf Empfänge, hat Affären, täuscht eine geplante Promotion vor, um in der Schweiz bleiben zu können. In Berlin ist Marie dem Verzweifeln und einem Selbstmord nahe, in der Schweiz macht sich Ilse ein schönes Leben.
Achtung, Spoiler! [Marie wird einen letzten Versuch wagen, Deutschland zu verlassen, aber das gelingt nicht Am Ende wird sie sterben und Ilse wird alle Erinnerungen auf dem Dachboden dem Erinnern entziehen. Die von Marie per Lagerung in Freiburg geretteten Haushaltsgegenstände machen Ilse nach dem Krieg die neue Wohnung in Zürich wohnlich, da hatte sie wohl keine Skrupel wegen der lästigen Erinnerungen, die mit den Stücken verbunden waren. Gabriel Heim jedenfalls wächst zwischen diesem Großmutterinvertar behütet auf.]
Gabriel Heim beschreibt zwischen den Briefen von Marie und anderen Dokumenten das Leben seiner Mutter, die es schafft. sich acht lange Jahre in der Schweiz durchzuschlagen und durchzuschlängeln, Besondere Sympathien für sie konnte ich dabei nicht entwickeln. Dass auch Marie so manche Allüren hatte, die Ilse und so auch dem Leser des Buches vielleicht missfallen, das gehört zu dieser Geschichte dazu.
Was mich an diesem Buch sehr geärgert hat, ist die Schriftgröße, schon die Grundschrift ist nur schwer lesbar, bei den kursiv gesetzten Briefen und den noch kleiner gesetzten Zitaten aus Dokumenten habe ich mehrmals aufgegeben und das Buch zurück ins Regal gestellt. Aber innerhalb eines halben Jahres habe ich es dann doch ausgelesen, der Verlauf dieser Geschichte war zu fesselnd.
Ich hatte nämlich im Vorfeld bereits das 2023 erschienene Buch "Wer sind Sie denn wirklich, Herr Gasbarra?" von Gabriel Heim über seinen Vater gelesen, das mich sehr bewegt hatte, dadurch wurde ich auf dieses schon 10 Jahre vorher entstandene Buch aufmerksam.
Fazit: Erschütterndes Schicksal einer deutschen jüdischen Mutter, die bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgibt. Das Lebensbild ihrer Tochter ist interessant, aber zwiespältig. Wer geduldig ist und gute Augen hat, für den ist das eine Leseempfehlung.