Anno Domini 1509 zu Wittenberg: Albrecht Dürer kommt nicht zur Ruhe! Da hat er sich eine Skizze abgerungen, die die gesamte Malerei in Deutschland seiner Zeit revolutionieren würde; die Venus hat er gemalt, mit perfekten Proportionen, ihr einen vorwitzigen Amor beigesellt - und was muss er erleben, als er mit seinem Eheweib, "sein Agnes" nach Wittenberg geladen wird, um den anderen großen Maler, Lucas Cranach, geehrt zu sehen? Dieser Kerl, der Schuft, hat sich doch tatsächlich seines Werkes, seiner perfekten Venus, bemächtigt und lässt sich dafür feiern! Albrecht schäumt, denn das darf doch nicht sein, dem muss er Einhalt gebieten...
Anno Domini 2019 zu Berlin: Die ehrgeizige junge Nele, begabte Studentin der Kunstgeschichte, steht wieder einmal versunken vor dem Bildnis eben dieser Venus, Lucas Cranachs Venus, wie alle Welt glaubt. Sie ist aufgewühlt, ist sie doch der Überzeugung, dass nicht Cranach der Schöpfer dieser Venus ist. Nein, ihr Liebling, Albrecht Dürer, ist der wirkliche Vater des Werkes! So macht sie sich an dem Bild zu schaffen, um den Beweis für ihre Theorie zu erbringen...
Inzwischen ist Neles Professor Seltig von einem ehrgeizigen Projekt besessen: der Gründung eines exklusiven Kunstclubs, für die Superreichen und vielleicht nicht so Schönen der Hauptstadt, wofür er den Regierenden Bürgermeister einspannen möchte, der allerdings große Bedenken angesichts eines solchen Luxusprojektes hat. Manipulativ und gerissen verfolgt Seltig auf der Cranach-Vernissage, bei der Nele die "Venus mit Amor" erklären soll, sein mehr als zweifelhaftes Ziel, sich selbstherrlich über den Regierenden Bürgermeister hinwegsetzend - und dabei in seinem Größenwahn sich selbst überschätzend...
Nachdem die erregte und nervöse Nele ihren Einsatz verpasst und ihr Heil in der Flucht sucht, fällt der ebenso erregte und nervöse Albrecht durch ein Zeitloch - und der beglückten Nele direkt vor die Füße! Mit nur einem Ziel vor Augen: der Venus, den der Halunke Cranach für sich beansprucht hat, endlich und unwiderruflich seine Initialen AD aufzudrücken!
Doch dann ereignet sich Unerwartetes und recht Seltsames, und die Geschichte läuft in eine Richtung, die keiner vorhersehen konnte - und die der überraschte Leser auch sicher nicht erwartet hatte...
Man muss kein Kunstgeschichtsexperte oder Kunstbeflissener sein, um in die amüsante Geschichte hineinzutauchen, die sich die Autorin Gabriele Borgmann in diesem kleinen Meisterwerk ausgedacht hat.
Sie hat, wie ihre Protagonistin Nele, ihre eigenen Vorstellungen von den beiden großen Renaissance-Malern Albrecht Dürer und Lucas Cranach dem Älteren - und diese sind spannend und aufschlussreich zugleich. Vielleicht liegt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in ihrer Sichtweise, vielleicht waren beide ganz ähnlich - vielleicht aber auch ganz anders! Doch so, wie die Autorin sie schildert, sind sie ungemein lebendig und fallen gewissermaßen - und um im Bilde zu bleiben - aus der Zeit und direkt vor die Füße des Lesers, der nicht umhin kann, seine Freude an der vergnüglichen Fabulierkunst der Autorin zu haben.
Verwoben mit den Akteuren der zweiten Handlungsebene durch eben jenes Zeitloch wird eine runde Sache aus der Geschichte!
Da trifft auch der seriöse Enthusiast und Kenner zugleich, in Gestalt der Studentin Nele, auf den Blender und Banausen, Seltig nämlich, der, obwohl Kunstgeschichtsprofessor, vielleicht über ein umfangreiches theoretisches Wissen verfügt, nicht aber über das Gefühl, den Sinn für das, was Kunst ausmacht.
Zwar fällt auch ihm Dürer direkt vor die Füße - doch sehen kann er ihn dennoch nicht. Weil er keine Phantasie hat, weil seine Absichten mit der Kunst keine hehren sind.
Das hat die Autorin mit viel Gefühl wunderbar herausgearbeitet - wie so einiges andere auch. Nicht nur scheint sie, wie Nele, eine Enthusiastin zu sein, sondern eben auch eine Kennerin des Stoffes, dessen sie sich in ihrer Novelle angenommen hat.
So erfährt man eine Menge über Farben, die die Maler der längst vergangenen Epochen verwendet und natürlich selbst hergestellt haben, und deren Zusammensetzung, und auch in Technik und auf die Sichtweisen, mit denen ein Maler sich an sein Werk macht, bekommt man einen aufschlussreichen Einblick.
Und wenn das alles noch dazu in eine elegante und verführerisch schöne Sprache gepackt wird, dann wird tatsächlich ein kleines Meisterwerk daraus, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt!