„Der unbarmherzige Motor und eigentliche Held des Romans ist die Zeit“, schreibt die Herausgeberin und Literaturkritikerin Nicole Henneberg in Anlehnung an Gabriele Tergit im Nachwort des Romans „Effingers“. Sie zitiert aus einem Schreiben aus dem Jahr 1948 an Walter von Hollander, einem Kollegen Tergits: „ dass wir alle mehr oder weniger seit 1914 gelebt worden sind, dass wir nicht mehr Herr und Meister unseres Schicksals waren, das soll eines der Charakteristiken der Schilderung sein.“ Dementsprechend hieß der Roman ursprünglich „Ewiger Strom“.
Dort, wo die „Buddenbrooks“ enden, setzt die jüdische Autorin mit ihrer Familiengeschichte ein. „Ein junger Mann, Paul Effinger, siebzehn Jahre alt, schrieb 1878 einen Brief“ an seine Eltern in Kragsheim, einem fiktiven Ort in Süddeutschland.
Sein ganzes Leben lang wird sich Paul in die heimatliche Idylle, wo sein Vater nach einem arbeitsreichen Leben als Uhrmacher seinen Ruhestand mit den persönlichen, familiären, jüdischen und dörflichen Traditionen genießen kann, zurücksehnen.
Für ihn hat die Zeit einen anderen Entwurf. Er wird nicht, wie sein Bruder Willy Uhrenhändler, bleibt auch nicht bei seinem Bruder (Big) Ben in England, lässt sich nicht wie seine Schwester Helene verheiraten und taucht auch nicht im Familienhaus, dem „Auge Gottes“, unter wie Bertha, sondern zieht nach Berlin, wo er gemeinsam mit seinem Bruder Karl zunächst mit der Fabrikation von Schrauben anfängt, um später auf den „schienenlosen Wagen“ zu setzen.
„Paul erinnert stark an den Firmengründer Siegfried Hirschmann“, schreibt Henneberg und fährt fort, „“der, wie Paul im Roman, seine Firma rasch ausbaut und, zusammen mit seinem lebenslustigen Bruder Bernhard (im Roman Karl), erfolgreich an die Börse bringt.“
„Ob Effingers als jüdischer Roman zu lesen sei oder nicht, darüber war sich die Autorin selbst nicht klar. Vor allem nach ihrer Ankunft in London 1938 wurde sie sich immer stärker ihrer ‚Besessenheit‘ bewusst, die assimilierten deutschenJuden zumindest erzählend zu erhalten.“
„Die Regierung lügt nicht“, wiederholt Paul mehrmals im Roman. Ein Satz, mit dem Elise Hirschmann, so der Geburtsname von Gabriele Tergit, aufgewachsen ist. Ob ihr Vater ihr am Ende seines Lebens auch jene Zeilen geschrieben hat, mit welchen Tergit den Roman beschließt, wissen wir nicht: „Ein alter Mann von einundachtzig Jahren, Paul Effinger, schrieb 1942 einen Brief: ‚Meine lieben Kinder und Enkel und Nichte Marianne, ich schreibe Euch in furchtbarer Stunde, ich weiß nicht, ob dieser Brief Euch je erreichen wird. Wir müssen den bitteren Kelch bis auf den Grund leeren. Es ist keine Hilfe noch Rettung … Die Reue zerfrißt mich, daß ich nicht Eurer lieben Mutter, meinem lieben Klärchen, die wie alle Frauen immer raus wollte, gefolgt habe. Ich reiße sie nun mit in das unausdenkbare Unglück … Ich habe an das Gute im Menschen geglaubt. Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens.’“
Die Religion, die aus Pauls Leben fast völlig verschwunden war, bricht in seinen letzten Worten mit hoffender Gewalt durch: „Der Vater im Himmel möge das Band unserer Gemeinschaft zusammenhalten. Er verleihe uns seinen Segen auf all unseren Wegen, denn wir bedürfen seiner. Er behüte auch Euch. Er lasse Euch Sein Antlitz leuchten und gebe Euch Frieden. Amen. Euer Vater.“
„‚Geerdet und gestärkt‘ sei sie durch die Religion, sagte sie 1979 in ihrem letzten Interview, und schon als Kind beeindruckten sie die Familienfeste - was sich unschwer an der liebevollen Schilderung des Seder-Abends im Uhrmacherhaus ablesen lässt“, erläutert Henneberg.
Im Roman wird die Familie Effinger durch die Heirat Karls mit den Oppners und Goldschmidts verbunden. Für Tergit die Gelegenheit, das industriell aufstrebende Berlin bis ins kleinste Detail wieder auferstehen zu lassen.
Die Herausgeberin schreibt: „Meist kommt die große Familie in der Bendlerstraße zusammen, im Haus von Selma und Emmanuel, und die Schilderung des üppigen Einweihungsfestes gehört zu den besonders schönen und eindrucksvollen Passagen. Dieses Haus gab es, es gehörte den Großeltern von Heinz Reifenberg, war vom Königlichen Baumeister Ludwig Persiens, einem Schüler Schinkels, erbaut und wurde, genau wie im Roman, für 300000 Goldmark in bar gekauft.“
Forscht man über Heinz Reifenberg, Tergits Ehemann, so findet man schnell weitere Parallelen zum Roman. So flüchtete er wie Erwin, Karls Sohn, aus der französischen Kriegsgefangenschaft.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Palästina, wobei ihnen die Tschechoslowakei als Zwischenstation diente. Erwin, seiner Ehefrau Lotte, Pauls Tochter, und ihren Kindern wird ein ähnliches Schicksal zuteil.
Die Familien sind von Anfang an groß und mehren sich bis in die vierte Generation. Dank der Detailliebe Tergits hat der Leser jedoch keine Schwierigkeiten, den Konstellationen zu folgen. Hilfreich sind auch ihre einprägsamen Wiederholungen. Zuletzt erleichtert ein Stammbaum am Ende des Buches die Orientierung.
Die Familie Oppner, in die Karl einheiratet, hat drei geborene Goldschmidts an ihrer Spitze, Selma, die spätere Ehefrau von Emmanuel Oppner, Ludwig und Waldemar. Letzterer zählt neben Paul und Lotte Effinger zu den Hauptfiguren.
„Der Gelehrte und weise Menschenkenner“ ähnelt Walther Rathenow. „Er vertritt die Ideen der Aufklärung und des liberalen Denkens in seiner besten und liebenswertesten Form. Er spricht stets Klartext, und seine Verteidigung der geistigen Verdienste deutscher Juden und ihres damit erworbenen Rechtes auf die deutsche Kultur steht in ihrer humanen Radikalität dem Brief Armin T. Wegeners an Hitler (April 1933) nahe, von dem sich ein Typoskript in Tergits Nachlaß findet. Folgende Stelle hat sie markiert: ‚Haben alle diese Männer und Frauen (Albert Einstein, der Reeder Albert Ballin, der Naturforscher Ehrlich, (…) Emil Rathenau, Gründer der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, ihre Taten als Juden vollbracht oder als Deutsche? Haben ihre Schriftsteller und Dichter eine jüdische Geistesgeschichte geschrieben oder eine deutsche, ihre Schauspieler eine deutsche Sprache gepflegt oder eine fremde?’“
Fast zwei Jahrzehnte arbeitete Tergit an „Effingers“, fand aber nach dem Krieg keinen Verlag. Fehlerhafte Juden waren nicht gefragt. „!964 erschien eine Volksausgabe (im Lichtenberg Verlag) nur unter der Bedingung, daß die Autorin 20 Prozent kürzte, was sie widerstrebend tat.“ Nach zwei Lizenzausgaben und einer zweiten Auflage 1978, nahmen sich nun Klaus Schöffling als Verleger und Nicole Henneberg als Herausgeberin des umfangreichen Werkes an, wofür ich ihnen nicht genug danken kann.
Denn sie zeigen mit der Veröffentlichung von „Effingers“, dass sich Gabriele Tergit in einem Punkt geirrt hat. Wir werden nicht erst seit 1914 gelebt, sondern jeder einzelne Mensch schleppt die gesamte Menschheitsgeschichte mit sich herum, die ihn je nach Ort und Zeit in diese oder jene Richtung wirft. Vom freien Willen keine Spur!
Vera Seid
PS: Diese Rezension widme ich meinem Onkel zum 80.Geburtstag.