Cover des Buches Perdita (ISBN: 9783894015992)
Rezension zu Perdita von Gail Jones

Rezension zu "Perdita" von Gail Jones

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 14 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 14 Jahren
"Perdita" - Die Verlorene "Ein Wispern: Schhhh. Das zarteste Vehikel des Atems. Dies ist eine Geschichte, die sich nur flüsternd erzählen lässt. Schwierigem Wissen haftet etwas Gedämpftes, Verlegenes, Beklemmendes an, es besitzt eine Tendenz zur Stille. Meine Kehle ist entstellt durch das, was sie in sich trägt. Mein Herz ist eine saure, träge Frucht. Die Zeit hat mir einen Maulkorb angelegt, und ich glaube, dadurch bin ich so geworden, dadurch hat sich mein Mund verformt, meine Stimme, mein Bedürfnis zu sprechen. Zunächst war da dieses eine Bild: ihr Kleid, in jenem ungewöhnlichen Hortensienblau, bespritzt mit dem violetten Blut meines Vaters." So beginnt dieser poetische und sprachgewaltige Roman, in dem Gail Jones das Leben Perditas schildert. Das Mädchen wächst in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem verbitterten Vater und einer wahnsinnigen Mutter auf. Sie leben in der australischen Wildnis in einer Hütte. An den Wänden hängen Zeitungsausschnitte und Bilder über den Zweiten Weltkrieg, Türme von aufeinander gestapelten Büchern, die vermodern, verstopfen die Hütte, Schlangen hausen zwischen den Büchern und allerlei Anderes in den Ecken und Winkeln. Perdita wächst frei auf, verwildert, vernachlässigt, von den Eltern unerwünscht, ohne Schulbesuche und ein geregeltes Leben, ohne elterliche Liebe. Liebe und Zugehörigkeit erfährt sie durch Billy, den taubstummen Sohn der Nachbarn, der ihr bester Freund wird und durch Mary, einem Aboriginemädchen, welches als Hausmädchen bei den Keenes tätig ist. Eines Tages, als Perdita elf Jahre alt ist, wird ihr Vater erstochen und die Tragödie, die sich in der ärmlichen, elterlichen Hütte abspielt, verändert für immer das Leben Perditas und Marys. Perdita wird stumm, Mary bekennt sich schuldig und wird verhaftet. Der Autorin Gail Jones gelingt es ganz ausgezeichnet, Lebensgeschichten geschickt mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu verbinden. Shakespeares Dramen und Sonette finden hier ebenso Platz wie Reflektionen über die verschiedensten Themen. Zum einen ist ganz klar das Leben des Mädchens Perdita zu nennen, welches vereinsamt und isoliert nach dem Tod ihres Vaters in ihrer Stummheit leidet. Es finden sich Gedanken zur Kindheit, zum Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern, von der Abhängigkeit der Kinder von der Entscheidung Erwachsener. Dann sei noch die Krankheit der Mutter erwähnt, ihre geistige Krankheit und ihre Unfähigkeit, Perdita mütterliche Liebe und Zuwendung zukommen zu lassen. Des Weiteren finden sich vorzügliche Reflektionen über das Lesen und die Bedeutung von Büchern und Geschriebenem, welche sicher jedem begeisterten Leser gefallen würden. Nicht unerwähnt lassen möchte ich das Hausmädchen Mary, ein Aboriginemädchen, welches der Mutter weggenommen wurde. Mit diesem Punkt leistet G. Jones einen Beitrag zu den 'Gestohlenen Generationen', der Zwangsentfernung von Generationen von Kindern der australischen Ureinwohner aus ihren Familien durch die australische Regierung. Auch ist "Perdita" Gail Jones Beitrag zur Debatte um die Entschuldigung der australischen Regierung für ihre unmenschliche Behandlung der Aborigines. Aus der Perspektive des allwissenden Erzählers heraus, durchsetzt mit Rückblenden Perditas, wird dem Leser ein ganz eindringliches Portrait von zerstörten Leben dargelegt. Und das alles in harter, poetischer und schonungsloser Sprache, die zu ergreifen vermag. Es findet sich eine Fülle von poetischen Schilderungen, abstrakt und dennoch empathisch; es sind Sätze, die ich mehrmals gelesen habe, weil sie intelligent und weise sind und sich vortrefflich über sie nachdenken lässt. Die Bildgewaltigkeit und das Erschaffen von Atmosphäre sind beeindruckend; die Hitze, den Dreck und den Sandsturm der staubigen Buschlandschaft konnte ich lesend miterleben. Sehr großartig umgesetzt und selten anzutreffen, in der Form! Das Buch endet mit einer Anmerkung zum Begriff Sorry" (Titel der englischen Originalausgabe), welcher in Australien eine vielschichtige und komplexe Bedeutung hat. An dieser Stelle würde ich sehr gerne eine Unmenge von Stellen zitieren, um Euch neugierig zu machen auf dieses Werk, aber ich kann mich beim besten Willen nicht entscheiden, welche Sätze ich zitieren könnte. Es sind zu viele wunderbare und aussagekräftige Stellen enthalten, am besten, Ihr entscheidet selbst! Was mich erstaunt, ist, dass es zu "Perdita" noch nicht eine einzige Rezension gibt. Wie kann das sein, fragte ich mich... Nun hoffe ich, dass ich mit meinen Zeilen dazu beitragen kann, dieses wundervolle, ernste und wichtige aber ebenso schöne Buch an die Leserin und den Leser zu bringen! Und ich wünsche mir, dass ich wenigsten bei einigen Interesse an diesem Roman wecken kann, das Buch hat es verdient! Empfehlen kann ich "Perdita" allen Lesern, die Familiengeschichten, auch tragische, mögen! Mich hat die Lektüre an Schloss aus Glas von Jeannette Walls und an Geheimnisse von Joyce Carol Oates erinnert. Tragischen Familiengeschichten wohnt ein besonderer Ton inne, ein hoffnungsloser, der jedoch bei genauerer Betrachtung zahlreiche Weisheiten und Lebensphilosophien beinhaltet und dadurch tröstend wirken kann!
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