New Yorker Kultautor, lese ich im Klappentext, und befürchte die damit einhergehende bemühte Originalität – und so ist es dann auch (eine Scheune, „die so rot war, dass es schon ans Patriotische grenzte.“ „Dee Cameron fuhr wie eine Tochter der beiden Carolinas, die Haupt- und Nebenstrassen eine natürliche Verlängerung ihrer in Sandalen steckenden Füsse.“), doch eben nicht nur.
Gary Shteyngart, 1972 im damaligen Leningrad geboren, im Alter von sieben mit den Eltern in die USA gekommen, weiss – wie alle in der kapitalistischen Grossstadt Aufgewachsenen – , dass der Mensch, um im angeblich naturgegebenen Wettbewerb zu bestehen, ein Markenzeichen braucht. Bei ihm sind das Russischstämmige, im vorliegenden Roman ist es der Schriftsteller Sasha Senderovsky sowie seine Frau Masha, eine Psychiaterin.
Die beiden wohnen auf dem Land und haben Freunde und Bekannte in ihre Bungalowanlage eingeladen. Es ist die Zeit, in der Corona regiert und die Psychiaterin schaut dazu, dass Distanz gehalten und in der Küche Maske getragen wird. Ein Pandemie-Roman sei Landpartie, habe ich irgendwo gelesen, doch dass Gary Shteyngart, wie der Klappentext behauptet, „die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt unserer jüngsten Vergangenheit“ dokumentiert und „sie in einen süffig-intelligenten Roman (verpackt), der an Boccaccios Dekameron und die grossen Klassiker der russischen Literatur denken lässt“ ... Sagen wir es so: Ich habe das Dekameron nie gelesen, an die grossen russischen Klassiker, die ich kenne, muss ich bei der Lektüre nicht denken. Die heutige Literaturwelt scheint mir vor allem einfallslos, kaum eine Besprechung dieses Werks, die das Dekameron und die grossen Russen auslässt.
Unter den Besuchern ist auch ein Hollywoodstar, den der Autor so schildert: „Der Schauspieler konnte Menschen mit charakterlichen Mängeln verkörpern, seine Fähigkeiten waren unermesslich, er konnte jederzeit wie auf Knopfdruck über eine Version seiner selbst weinen, die nur teilweise existierte, aber seine eigenen Mängel waren ihm nie so recht bewusst.“ So weit so gut, hätte er das nur so stehen lassen, doch leider drängt es Gary Shteyngart weiterzufahren: „In gewissem Sinne war er zutiefst ohne Jesus. Einem kleinen, beschädigten Atomreaktor vergleichbar, konnte er sein eigenes Spektrum von 'Gefühlen' erzeugen, das er dann als Hintergrund-Gammastrahlung in die Umgebung freisetzte. Jeder am Tisch mit Ausnahme von Senderovsky, ja jeder auf dem Planeten wollte eine Dosis davon.“ Nun ja, ich nicht; doch möglicherweise Salman Rushdie, der aus mir unerfindlichen Gründen diesen Roman als – nichtssagender geht kaum – „eine mächtige Fabel für unsere gebrochene Zeit“ bezeichnet hat.
Ich habe Mühe mit diesem Buch, fühle mich hin und hergerissen zwischen sehr Witzigem („'Es ist mir egal, ob ich lebe oder sterbe', sagte Lara, was im Russischen 'Mir geht es gut, danke der Nachfrage' entspricht.“) und forcierter Originalität („Das Leben mit Daddy war eine fortwährende Begegnung mit einem Gänseblümchen. Er liebte sie, er liebte sie nicht.“). Letzteres überwiegt leider bei weitem ...
Andererseits: Ganz wunderbar gezeichnet finde ich die ungestüme Tochter der Senderovskys sowie Sashas Bemühungen, Vinods angeblich verschwundenes Manuskript zu entsorgen. Nur eben: „Der Schauspieler, unrasiert und mit ein paar Körnchen Schlaf um die osmanischen Augen, war unzufrieden.“ Solche und ähnliche Formulierungen („Senderovsky und Vinod erschienen mit bedrückten beziehungsweise benommenem Gesicht vor ihm wie zwei Rekruten einer österreichisch-ungarischen Armee kurz vor der Niederlage.“) sind nicht mein Ding. Doch den Bogen gab mir dann: „'Wo haben Sie eigentlich kochen gelernt?', fragte Dee. 'Ich habe in jüngeren Jahren eine Zeit lang in Italien gelebt', sagte Ed.“ War das ernst gemeint? Oder als Witz? Ich konnte mich nicht entscheiden, erinnerte mich aber an ein Restaurant auf den Philippinen, das mit Thai-Italian-Pizza Werbung machte und von einem Pärchen (ja genau, sie Thai, er Italiener) geführt wurde, die beide definitiv nicht kochen konnten.
Trotzdem blättere ich weiter, lese mich immer mal wieder bei den Beziehungsdialogen fest, die sich unweigerlich ergeben, wenn man abgeschieden von der Welt, die man medial wahrnimmt, zusammenlebt. „'Mir kommt der Gedanke', begann er, 'dass wir drei – du, ich und Sasha – Produkte der geschäftlichen Misserfolge unserer Väter sind.' 'Mein Lieber, ich habe schon einen Seelenklempner', sagte sie. 'Wahrscheinlich den besten in der City. Du bist im Augenblick mein ganzes Glück, zusammen mit Nat. Du musst hier nicht doppelte Arbeit leisten. Bleib bei deiner Kernkompetenz, nämlich einfach Vinod zu sein.'“
Das ist für mich Amerika pur. Simplifizierung gefolgt von, natürlich, der besten Lösung in Gestalt eines Psychologen/Psychiaters sowie einer höchst erhellenden Folgerung. „Bleib bei deiner Kernkompetenz, nämlich einfach Vinod zu sein“, ist eine überaus hilfreiche Lebensanleitung. Und dafür hat sich dann dieses Buch doch gelohnt.