Immer wieder kommt Gavin de Becker darauf zurück. Menschen drehen nicht einfach so durch, Menschen werden nicht plötzlich und unerwartet aggressiv und gewalttätig. Immer gibt es im Vorfeld Zeichen und Warnungen, die man eigentlich bemerken müsste. Warum aber gelingt es nur wenigen Menschen diese Zeichen zu sehen und zu deuten? De Becker gibt darauf eine einfache, aber zutreffende Antwort: Wir haben das Vertrauen in unsere Instinkte verloren. Noch schlimmer: Wir bekämpfen sie, indem wir ihnen unsere angebliche Rationalität entgegenstellen oder indem wir sie aus Angst, gegen scheinbare Konventionen zu verstoßen (freundlich sein, niemanden verletzen usw.), unterdrücken.
Im Buch findet der Leser bereits nach wenigen Seiten dafür ein geradezu klassisches Beispiel, bei dem eine Frau trotz eines unangenehmen Gefühls, das sie rational nicht erklären kann, ihren späteren Vergewaltiger in ihre Wohnung lässt. De Becker benennt die Eskalationszeichen und ermahnt seine Leser nachdrücklich ihrer Angst, die sich oft diffus äußert, standhaft zu vertrauen. Unser Gehirn weiß in der Tat viel mehr als uns wirklich bewusst ist. Es hat Situationen, Abläufe und Muster abgespeichert, an die wir uns nicht mehr erinnern können oder die wir selbst gar nicht direkt erlebt haben. Es erkennt an Stimme oder Körpersprache bei anderen Gefahren, die wir bewusst noch nicht wahrnehmen und erst recht nicht erklären können. In unserer DNA steckt jedoch auch die Erfahrung vieler Generationen, von denen wir bewusst gar nichts wissen können. Allein schon deshalb sollten wir unserer Angst vertrauen und sie nicht als irrational abtun. Es könnte unser Leben retten.
In deutscher Sprache ist dieses Buch bereits vor 20 Jahren schon einmal erschienen. Man merkt ihm sein Alter jedoch nur an, wenn de Becker sich auf damals aktuelle Beispiele bezieht. Der Text selbst ist zeitlos. Und sein Autor ist nicht irgendwer. Sein Sicherheitsdienst ist in den USA eine große Nummer. Insbesondere schützt er Hollywoodgrößen und erstellt für sie und andere Klienten Risikoeinschätzungen. Zwar nennt de Becker im Text keine Namen, allein in den Danksagungen am Ende des Buches findet man sie doch. Gewisse Aussagen in diesem Buch sind jedoch speziell auf die USA zugeschnitten. Dort existieren andere Waffengesetze und eine etwas andere Kultur der Gewalt. Inzwischen jedoch muss man befürchten, dass sich in Zukunft ähnliche Szenarien auch bei uns ereignen können.
Neben dem Vertrauen in die eigene Intuition schult das Buch auch das rationale Verständnis für ein potentielles Gewaltszenario. De Becker macht immer wieder nachdrücklich darauf aufmerksam, dass man Gewalt vorhersagen kann, wenn man gelernt hat, die Zeichen im Vorfeld zu lesen. Und dann beschreibt er solche Zeichen sehr ausführlich.
De Becker zeigt auch, wie sich Menschen unbewusst mit potentiellen Gewalttätern einlassen und sie sogar noch unbemerkt anstacheln, weil sie die Situation nicht lesen können und ihrem Ego freies Spiel lassen. Nicht zu kämpfen oder Situationen einfach zu ignorieren ist immer der bessere Weg, selbst wenn man dabei dem eigenen Ego keinen Gefallen tut. Ein gekränktes Ego zu haben, sollte dann doch besser sein als umgebracht zu werden. Populäre Beispiele, wie man es nicht tun sollte, findet man im Text.
Leider verfügen nicht alle Menschen über die Fähigkeit, sich in andere Menschen hinzudenken. Stattdessen glauben sie, dass andere sich so verhalten werden, wie sie selbst es tun würden. Das ist eine wesentliche Ursache für eskalierende Missverständnisse , die in Gewalttaten enden. Beispielsweise würde man selbst mit Sicherheit eine gerichtliche Verfügung über das Einhalten eines Abstandes zu einem anderen Menschen aus Angst vor Strafe einhalten. Einen potentiellen Mörder schreckt das jedoch nicht. Dennoch werden in den USA immer wieder solche Verfügungen in dem Glauben erwirkt, sie würden eine Gewalttat verhindern können. De Becker erläutert an zahlreichen Beispielen, dass man sich des Risikos einer Situation möglichst objektiv bewusst werden sollte, um dann die richtigen Entscheidungen zu treffen. Manchmal muss man dabei auch einfach das kleinere Übel in Kauf nehmen um Schlimmeres zu verhüten.
Im Gegensatz zum Titel dieses Buches behandelt sein Autor nicht nur das Thema des Vertrauens in die eigene Intuition. Vielmehr umfasst sein Text eigentlich alle Formen potentieller Gewalt und die Zeichen, die im Vorfeld der Taten ausgesandt werden. Ein sehr lehrreiches Buch.
"Doch die Menschen erkennen die Zeichen nicht ..."