Cover des Buches Lincoln im Bardo (ISBN: 9783630875521)
Rezension zu Lincoln im Bardo von George Saunders

George Saunders | LINCOLN IM BARDO

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 6 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 6 Jahren

*** Die folgende Rezension erschien erstmals auf meinem Blog www.booksterhro.wordpress.com. Schaut mal vorbei, ich freu mich auf Euren Besuch! ***

(Bardo?) Im buddhistischen Glauben ist das Bardo eine Art Zwischenstation im Samsara, dem immerwährenden Zyklus des Seins, also der Bereich zwischen Leben und Wiedergeburt. (Hä?) So wie ein Gate im Flughafen, wenn du das Land offiziell schon verlassen hat, aber noch auf den Flieger wartest. (Achso!) In ebensolches Bardo verschlägt es den kleinen Willie Lincoln, Sohn des Präsidenten, nachdem er im Februar 1862 elendig an Typhus stirbt. Das Bardo, das er betritt, ist eine Schattenversion des Friedhofs, auf dem er bestattet ist. Dort freundet er sich mit den beiden liebenswürdigen Chaoten Hans Vollman und Roger Bevins III an, und mit Reverend Everly Thomas, einem Geistlichen, der, mit einem dunklen Geheimnis belastet, das Bardo nicht verlassen kann.

Abraham Lincoln indes geht an der Trauer um seinen Goldjungen fast zu Grunde und es ist fraglich, ob er die Geschicke seines Landes in diesen schweren Zeiten zum Wohle aller weiterhin lenken kann. Ein paar Tage nach der Beerdigung schleicht er sich auf den Friedhof und öffnet Gruft und Grab, um seinem Sohn ein letztes Mal Lebwohl zu sagen. Willie beobachtet ihn dabei, dringt als Geist in seinen Vater ein und spürt dessen Liebe und Trauer. Von diesen Emotionen überwältigt, ist sich Willie sicher: Sein Vater wird ihn aus diesem Zwielicht befreien, er wird zurückkommen und ihn holen. Nun verlangen die Regeln des Bardo, dass man sich möglichst schnell zur Wiedergeburt bereit mache – doch Willie weigert sich und es entbrennt ein Kampf der Geister um seine Seele.

George Saunders (*1958) geht in seinem ersten Roman stilistisch – wie von seinen Kurzgeschichten gewohnt – ganz eigene Wege. In über hundert zum Teil sehr kurzen Kapiteln lässt er wie in einem Theaterstück unzählige Figuren sprechen, die in ihrem jeweiligen Duktus das Geschehen kommentieren. Heraus kommt ein kollektives Durcheinander, ein gegenseitiges Dazwischengequatsche, das gekonnt den Spagat zwischen Tragödie und Komödie schafft und irgendwo zwischen Shakespeare und Monty Python landet.

Federführend sind die Stimmen von Vollman – mit dem Riesenpenis – und Bevins – mit den hundert Händen –, über die wir Leser auch mehr erfahren als über die meisten anderen Geister, wo sie herkommen und wer sie waren. Interessanterweise ist die einzige Figur, die überhaupt nicht zu Wort kommt – nur indirekt über die Berichte anderer –, Präsident Lincoln, womit auch klar wäre, wer hier der eigentliche Titelheld ist.

Zwischen die Geisterstimmen eingewebt sind dutzende Ausschnitte aus Büchern, Chroniken und Briefen von Zeitzeugen, die Lincolns Präsidentschaft analysieren und kommentieren. Wie geht er mit dem Verlust seinen Sohnes um? Was hat das für Auswirkungen auf die Entscheidungen, die gefällt werden müssen, gerade in Kriegszeiten? Ich habe stichprobenartig ein paar der Verfasser dieser Ausschnitte im Netz gesucht und bin fündig geworden, also gehe ich davon aus, dass diese Berichte historisch belegt sind. Die Bardo-Geschichte in diese Wortmeldungen einzubetten – ein äußerst gelungener Schachzug!

Auch die Übersetzung ist großartig gelungen. Frank Heibert, den ich spätestens seit Queneaus STILÜBUNGEN und Faulkners SCHALL UND WAHN zu den Größten seiner Zunft zähle, hat hier wieder ganze Arbeit geleistet. Diese unzähligen Stimmen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften stilecht ins Deutsche zu übertragen – inklusive dutzender Wortneuschöpfungen –, das ist eine Leistung, die verehrt werden muss.

LINCOLN IM BARDO, Gewinner des Man Booker Prize 2017, hat mich aus dem Stand umgehauen. Ich war erschlagen von der Wucht der eigentümlichen Prosa, an die ich mich zugegebenermaßen erst gewöhnen musste, die mich dann aber mit einem lächelnden und einem tränenden Auge in Windeseile durch die Seiten trug. (450 Seiten in fünf Tagen? Das ist für mich Rekordleistung! – Allerdings steht durch die vielen Stimmwechsel auch oft nicht so viel auf den Seiten.) Und noch etwas: Ich bin überhaupt nicht religiös veranlagt – Religion liegt mir so fern wie … watweißich … Häkeln? – aber wenn ein Roman es schafft, dass ich denke: So könnte ich mir das Nachleben auch vorstellen – Hut ab!

Für mich ganz klar eines der besten Bücher des Jahres und definitiv einen Re-Read wert. Leseempfehlung für alle, die sich trauen, ihre gewohnten Lesegewohnheiten über Bord zu werfen und neue Pfade zu erkunden … und weder Shakespeare noch Monty Python abgeneigt sind.

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