Rezension zu "Der Lauf des Amazonas" von Georges Raillard
Bizarre Perspektiven. Allein der Name bewirkt ein Eintauchen ins Mysterium des Unerschöpflichen und des Fremdartigen, Amazonas. Bewusst kurze, unvorhersehbare Geschichten sind es - Momente der Überraschung -, die uns an jeder neuen Biegung erwarten, während wir Zeile für Zeile dem Lauf des Erzählflusses folgen. Getragen von Wörtern, die über dunkelste Seelentiefen ins Ungewisse, ins Seltsame führen, um dem perplexen Leser ein ums andere Mal beunruhigende Perspektiven des Daseins zu eröffnen.
Der Titel des Buches "Der Lauf des Amazonas" dient lediglich als allegorischer Aufhänger, als Vehikel für das Erreichen einer auf dem ersten Blick alltäglichen Ausgangssituation, in zumeist vertrauter Umgebung. Jählings jedoch kippt diese vermeintlich harmlose Beschaulichkeit über den Rand des Banalen und stürzt den Leser durch einen Riss im eigenen Wahrnehmungsfilter. Ein Spiel mit den Erwartungen also: unversehens werden die anerlernten Schutzmechanismen aufgehoben und die gewohnte Kausalität des Erlebens aus der Verankerung gerissen. Die Frage nach Ursache und Wirkung springt aus dem Bodensatz der Surrealität - ähnlich der Impression eines abstrakten Bildes, dessen Doppelsinn sich beim zweiten Hinsehen plötzlich erschließt.
Eine abwechslungsreiche Landschaft gilt es - mit wachsendem Interesse - zu umschiffen, eine Welt aus minimalen Metaphern, sich entfaltend auf der Ebene der Plausibilität, ehe jener Knick im Gefüge entsteht und einen Negativabdruck über das jeweilige Szenario wirft. Georges Raillards Lektüre hinterlässt Spuren, Abdrücke auf der Seele, ganz im Gegensatz zu einer seiner Figuren, denen er in der Prosa-Sammlung ein höchst individuelles Leben einhaucht. Ein Herr namens Kepfer, dessen Existenz verklingt, kaum dass er die Bühne seines Schöpfers betreten hat; doch seine Schritte klingen nach wie das Echo aus einem parallelen Universum, wo allen Dingen und Befindlichkeiten eine nahezu entgegengesetzte Bedeutung innewohnt.
Unter den sparsam bemessenen, dafür umso eindringlicheren Texten finden sich poetische Anschauungen von einer besonderen lebensklugen Güte:
"Das Fliegen (des Pfeils) war zwar etwas Schönes: wie er mühelos, schwerelos durch die Lüfte schoss. Da hätte er sich fast allmächtig fühlen mögen. Vielleicht wäre es ja besser, er könnte vergessen, dass er gezielt worden ist: sorgfältig angelegt, langsam nach hinten gezogen, jäh losgelassen. Dahinfliegend verfluchte er den, der ihn abgeschossen hatte."
Am Ende der Lektüre fühlt man sich ein wenig wie dieser abgeschossene Pfeil, obschon der Leser die Richtung mit jedem neuen Umblättern wechselt, worin der eigentliche Reiz des vielschichtigen Werkes liegt. Anstatt Georges Raillard zu verfluchen, möchte man ihm danken für das kaleidoskopische Abenteuer weit jenseits des Amazonas, aber mittendrin im Verwirrspiel des menschlichen Geistes.
Peter Pitsch