Rezension zu "Zeitzuflucht" von Georgi Gospodinov
Nostalgie ist die unerfüllte - und unerfüllbare - Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Georgi Gospodinov behandelt das Thema mit viel klugem Witz in seinem Buch 'Zeitzuflucht'.
Der Icherzähler trifft auf einem Philologenkongress in Bulgarien den geheimnisvollen Gaustín, vielleicht hat er ihn auch nur erfunden, jedenfalls hat dieser Kerl ein seltsames Verhältnis zur Zeit, schreibt Briefe aus dem Herbst 1939 und findet sich dann in Zürich wieder, wo er in einer Klinik für Demenzkranke Zimmer im Stil bestimmter Jahrzehnte einrichtet. Die verwirrten Geister finden dort Ruhe und Geborgenheit in der Zeit, die ihren Gehirnen am ehesten vertraut ist. Aber auch die Angehörigen und das allgemeine Publikum sind begeistert, lassen sich anstecken. Bald bieten ganze Häuser, Viertel, Städte eine Art virtueller Zeitreise, ein Re-Enactment sozusagen an. Irgendwann wird der Sog so groß, dass die Staaten der EU ein Referendum abhalten, in welche Zeit sie zurückgehen wollen. Indes erleidet der Erzähler selbst immer gravierendere Gedächtnislücken, und am Ende gerät die Nostalgie aus den Schranken: Bei einer Nachstellung des Attentats von Sarajewo vom 28.6.1914 wird der Thronfolgerdarsteller von einer scharfen Kugel tödlich verwundet, und als der Beginn des 2. Weltkriegs mit dem Beschuss der Westerplatte gespielt werden soll und eskaliert, stellt sich endgültig die Frage, ob wir der Grausamkeit der Geschichte entfliehen können.
Das ist amüsant zu lesen, gespickt mit Zitaten und Anspielungen auf Literatur und Film, eine intellektuelle Scharade, die mit den Mitteln von Fantastik und einer speziell osteuropäischen Art des magischen Realismus sehr ernste Themen höchst vergnüglich anreißt. Natürlich ist es ein Schuss gegen alle, die irgendwas great again machen wollen, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen, um ihre Privilegien zu wahren. Interessanterweise spricht Gospodinov das Problem der Technik explizit an: Wollen und könnten wir wirklich in eine Welt ohne Smartphones und Internet zurück? Aber gerade die Kernthemen der Rechtspopulisten lässt er ausgeblendet liegen: Die Welt von gestern wäre eine ethnisch und kulturell homogenere. Was soll in den Gesellschaften des Reenactments eigentlich aus den vielen werden, die seit damals hierher migriert sind? Was halten die Schwulen davon, sich wieder verstecken zu müssen - und die Frauen, dass sie wieder an den Herd sollen? Es braucht schon eine männlich-hetero-weiße Existenz, um so unbeschwert und vergnügt seine Nostalgien auszuleben. Die Marginalisierten aber, die lässt er hokuspokus in seinem magischen Zauberhut verschwinden!
Zur Vorsicht erwähnen sollte man auch, dass Gospodinovs Buch eigentlich kein Roman sein kann, aber es spricht für die Qualität des Werkes, dass es sich seine Schublade selbst schaffen muss. Vielleicht so etwas wie fiktional-magisch-realistischer Politik-Philosophie-Essay in der Kategorie intelligente Unterhaltung oder einfach: heitere Dystopie.