Georgi Gospodinov

 4 Sterne bei 36 Bewertungen
Autor*in von Zeitzuflucht, Physik der Schwermut und weiteren Büchern.

Lebenslauf

Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol, Bulgarien, geboren. Einem großen internationalen Publikum wurde er mit seinem ersten Roman bekannt, dem »Natürlichen Roman« sowie dem Roman »Physik der Schwermut«, die in mehr als zwanig Sprachen übersetzt wurden. Gospodinov wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweifach mit dem bulgarischen Buchpreis und dem Jan Michalski-Preis. Für seinen Roman »Zeitzuflucht« erhielt er 2023 den International Booker Prize. Er lebt und arbeitet in Sofia. 

Quelle: Verlag / vlb

Alle Bücher von Georgi Gospodinov

Cover des Buches Zeitzuflucht (ISBN: 9783746639963)

Zeitzuflucht

 (18)
Erschienen am 14.11.2023
Cover des Buches Physik der Schwermut (ISBN: 9783423145336)

Physik der Schwermut

 (11)
Erschienen am 11.11.2016
Cover des Buches 8 Minuten und 19 Sekunden (ISBN: 9783854209485)

8 Minuten und 19 Sekunden

 (4)
Erschienen am 05.02.2016
Cover des Buches Natürlicher Roman (ISBN: 9783854207283)

Natürlicher Roman

 (3)
Erschienen am 01.08.2007
Cover des Buches Kleines morgendliches Verbrechen (ISBN: 9783854207672)

Kleines morgendliches Verbrechen

 (0)
Erschienen am 29.01.2010

Videos

Neue Rezensionen zu Georgi Gospodinov

Cover des Buches Zeitzuflucht (ISBN: 9783746639963)
Lea_Gajics avatar

Rezension zu "Zeitzuflucht" von Georgi Gospodinov

Eine Zeitreise durch Nostalgie und Melancholie
Lea_Gajicvor einem Monat

Gaustín wandelt wie ein zeitloser Flaneur durch die Straßen, ein Relikt vergangener Epochen. Sein Kleidungsstil ist altmodisch, seine Ohren lauschen den Klängen längst vergangener Jahrzehnte, und sein Büro strahlt den Charme der 1960er Jahre aus. Doch als er feststellt, dass die vertraute Umgebung vergangener Zeiten einen positiven Einfluss auf Alzheimer-Patienten hat, fasst er einen außergewöhnlichen Entschluss. Er gründet in Zürich* eine Klinik für die Vergangenheit - ein Ort, an dem jedes Stockwerk einer anderen Dekade gewidmet ist, um den Menschen Trost zu spenden. Die Patienten finden in den liebevoll rekonstruierten Räumen nicht nur Erinnerungen, sondern auch Frieden und Geborgenheit. Doch bald schon interessieren sich nicht nur die von Krankheit Gezeichneten für Gaustíns Konzept. Gesunde Menschen suchen ebenfalls Zuflucht in dieser Oase der Nostalgie, wo sie dem hektischen Treiben der Gegenwart entfliehen können. Das Modell der Klinik greift über die Grenzen der Gesundheit hinweg und erobert andere Lebensbereiche. Menschen jeden Alters und Gesundheitszustands finden hier einen Ort der Ruhe und des Rückzugs, um in vergangenen Zeiten zu schwelgen und sich den Herausforderungen des modernen Lebens zu entziehen. Gaustíns Klinik für die Vergangenheit wird so zu einem Ort der Heilung und des Trostes für die Seelen der Menschen, die in der Gegenwart verloren zu sein scheinen.

(*eine Anspielung auf die seltsame Zeitlosigkeit der Schweiz aufgrund ihrer Neutralität und der Anwesenheit von Dignitas)

Gaustín ist sozusagen der unsichtbare Doppelgänger, den wir alle haben, und er kann alles sein, was wir nicht sind, weil er nicht durch die Zeit begrenzt ist: Er ist das Ergebnis der Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben. Nun gründet Gaustín zunächst eine Klinik für Alzheimer-Patienten, die aus Räumen besteht, die in den verschiedenen Jahrzehnten des 20. Immer mehr Kliniken wie diese entstehen, und gesunde Menschen wollen sich in den Zeitschutz dieser Kliniken zurückziehen, um der Gegenwart und einer Zukunft zu entfliehen, an die sie nicht mehr glauben, bis der ganze Kontinent darüber abstimmt, in welchem Jahrzehnt der Vergangenheit das Land in Zukunft leben will.

Die Geschichte ist somit eine Allegorie darauf, dass wir als Individuen die Vergangenheit idealisieren, und jedes Land in Europa sieht aufgrund historischer Umstände einen anderen Zeitrahmen als sein goldenes Jahrzehnt an: Der Kontinent fällt in Zeitkapseln. Aber die Vergangenheit kann nicht wirklich nachgespielt werden, weil die Zukunft nicht in eine Version der Vergangenheit verwandelt werden kann - was uns zur politischen Dimension der neuen faschistischen Politiker bringt, die versprechen, Land XY wieder groß zu machen.

Findet die Ich-Figur in diesem simulierten Kinderzimmer also auch die "Zuflucht vor anderen Zeiten", von der Gaustin spricht? Eine Art simulierte Vergangenheit, die auch dann Schutz bietet, wenn die Welt jetzt oder in naher Zukunft unterzugehen droht? Und damit Schutz bietet vor dem Vergessen des Alters, aber auch vor allerlei anderen Bedrohungen, die die Gegenwart bietet? Die Ich-Figur hat jedenfalls ein großes und wachsendes Bedürfnis nach einem solchen Zufluchtsort

Gospodinov spielt mit der Vergangenheit durch Reisen und Erinnerungen, in einer labilen und flüssigen Grenze, in der sich die Definitionen von Traum und Erinnerung gegenseitig beeinflussen, bis sie nicht mehr miteinander identifizierbar sind.

Sehr schön fand ich die intimeren Seiten, in denen die persönliche Erinnerung des Autors zum Vorschein kommt. Die Zeit wird zu einem Raum, in dem man Zuflucht findet, zu einem erzählerischen Mittel, um in eine neue Dimension vorzudringen und zu zeigen, wie das Geschehene zurückkehren kann und, dass der Mensch selbst unbewusst ein Tier ohne Gedächtnis ist, das sich nicht an seine Fehler erinnern kann.

"Ist dieses Buch über die Vergangenheit nicht letztlich ein Versuch, an jenen heilsamen Ort zu gelangen, wie weit zurück auch immer die Zeit liegen mag, an dem die Dinge noch intakt sind [...] Ich sage Ort, aber es geht um die Zeit, einen Ort in der Zeit. Ein Rat von mir: Besuchen Sie niemals nach langer Abwesenheit den Ort, den Sie als Kind verlassen haben. Er ist verändert, von der Zeit gezeichnet, verlassen, geisterhaft.
Dort. Er ist nicht da. Nichts. "

Die ersten Teile - die Klinik über die Vergangenheit und das Referendum über die Vergangenheit - scheinen zwei alternative Ansätze für die Geschichte zu sein, zwischen denen sich Gospodinov nicht entscheiden konnte, so dass er sie beide belässt. Die beiden Teile sind für sich genommen interessant, bleiben aber in der Luft hängen. Für mich fehlte der rote Faden, um das Persönliche mit dem Öffentlichen auf überzeugende Weise zu verbinden. Gaustín, der mögliche rote Faden, hat sich einfach in Luft aufgelöst.

Der Glaube an eine "Zeitzuflucht" ist also nach diesem Roman eine Illusion, so verständlich und vielleicht sogar unverzichtbar dieser Glaube auch sein mag. Denn die Zeit entgleitet uns, und eine "Zuflucht" in der Vergangenheit ist nirgends zu finden. Und schon gar nicht eine Zuflucht, die uns vor dem Verlust des Alterns oder vor katastrophalen Zeiten der Weltgeschichte schützt. Das ist eine ziemlich melancholische Botschaft, und deshalb ist dieser Roman oft ziemlich trostlos. Aber das stört mich nicht: So ist das Leben nun mal, und man muss sich damit abfinden. Und ich denke, dieser Roman hilft dabei, indem er die Melancholie in einem so schönen Stil und einer so schönen Form einfängt. Außerdem bewundere ich den Erfindungsreichtum dieses Romans, den sprudelnden Reichtum an Nebenpfaden und Ideen, die Schönheit der Gedankenexperimente, den spielerischen und phantasievollen Aufbau und die oft so schönen Formulierungen. Deshalb habe ich ihn mit einem breiten Grinsen gelesen. 

Cover des Buches Zeitzuflucht (ISBN: 9783351038892)
Nicolai_Levins avatar

Rezension zu "Zeitzuflucht" von Georgi Gospodinov

Welches Jahrzehnt hätten'S denn gern?
Nicolai_Levinvor 9 Monaten

Nostalgie ist die unerfüllte - und unerfüllbare - Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Georgi Gospodinov behandelt das Thema mit viel klugem Witz in seinem Buch 'Zeitzuflucht'.

Der Icherzähler trifft auf einem Philologenkongress in Bulgarien den geheimnisvollen Gaustín, vielleicht hat er ihn auch nur erfunden, jedenfalls hat dieser Kerl ein seltsames Verhältnis zur Zeit, schreibt Briefe aus dem Herbst 1939 und findet sich dann in Zürich wieder, wo er in einer Klinik für Demenzkranke Zimmer im Stil bestimmter Jahrzehnte einrichtet. Die verwirrten Geister finden dort Ruhe und Geborgenheit in der Zeit, die ihren Gehirnen am ehesten vertraut ist. Aber auch die Angehörigen und das allgemeine Publikum sind begeistert, lassen sich anstecken. Bald bieten ganze Häuser, Viertel, Städte eine Art virtueller Zeitreise, ein Re-Enactment sozusagen an. Irgendwann wird der Sog so groß, dass die Staaten der EU ein Referendum abhalten, in welche Zeit sie zurückgehen wollen. Indes erleidet der Erzähler selbst immer gravierendere Gedächtnislücken, und am Ende gerät die Nostalgie aus den Schranken: Bei einer Nachstellung des Attentats von Sarajewo vom 28.6.1914 wird der Thronfolgerdarsteller von einer scharfen Kugel tödlich verwundet, und als der Beginn des 2. Weltkriegs mit dem Beschuss der Westerplatte gespielt werden soll und eskaliert, stellt sich endgültig die Frage, ob wir der Grausamkeit der Geschichte entfliehen können.

Das ist amüsant zu lesen, gespickt mit Zitaten und Anspielungen auf Literatur und Film, eine intellektuelle Scharade, die mit den Mitteln von Fantastik und einer speziell osteuropäischen Art des magischen Realismus sehr ernste Themen höchst vergnüglich anreißt. Natürlich ist es ein Schuss gegen alle, die irgendwas great again machen wollen, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen, um ihre Privilegien zu wahren. Interessanterweise spricht Gospodinov das Problem der Technik explizit an: Wollen und könnten wir wirklich in eine Welt ohne Smartphones und Internet zurück? Aber gerade die Kernthemen der Rechtspopulisten lässt er ausgeblendet liegen: Die Welt von gestern wäre eine ethnisch und kulturell homogenere. Was soll in den Gesellschaften des Reenactments eigentlich aus den vielen werden, die seit damals hierher migriert sind? Was halten die Schwulen davon, sich wieder verstecken zu müssen - und die Frauen, dass sie wieder an den Herd sollen? Es braucht schon eine männlich-hetero-weiße Existenz, um so unbeschwert und vergnügt seine Nostalgien auszuleben. Die Marginalisierten aber, die lässt er hokuspokus in seinem magischen Zauberhut verschwinden!

Zur Vorsicht erwähnen sollte man auch, dass Gospodinovs Buch eigentlich kein Roman sein kann, aber es spricht für die Qualität des Werkes, dass es sich seine Schublade selbst schaffen muss. Vielleicht so etwas wie fiktional-magisch-realistischer Politik-Philosophie-Essay in der Kategorie intelligente Unterhaltung oder einfach: heitere Dystopie.

Cover des Buches Zeitzuflucht (ISBN: 9783351038892)
esmerabelles avatar

Rezension zu "Zeitzuflucht" von Georgi Gospodinov

Georgi Gospodinov - Zeitzuflucht
esmerabellevor 2 Jahren

„Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht, du aus nächster Nähe die Rose und ihr Labyrinth betrachtest. Ich sage Ort, doch es ist eine Zeit, ein Ort in der Zeit. Ein Rat von mir, besucht nie, wirklich nie nach langer Abwesenheit den Ort, den ihr als Kinder zurückgelassen habt. Er ist ausgetauscht worden, von Zeit entleert, verlassen, gespenstisch. 

Dort. Ist. Nichts.“

(Kapitel III/4)

Gaustín, ein Bekannter des Ich-Erzählers, eröffnet in Zürich eine Klinik für Alzheimer-Patienten. Jedes Stockwerk ist thematisch einem bestimmten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewidmet, so dass der Kranke in die Zeit zurückkehren kann, in der er sich mit seinen Erinnerungen noch zuhause fühlt. Das Projekt weitet sich schnell aus, es entstehen neue Kliniken in anderen Ländern, dann ganze Straßenzüge, Areale. Nicht lange, und auch Menschen ohne Erkrankung bitten um Aufnahme, um dem Stress der Gegenwart entfliehen, sich wieder in jener Zeit aufhalten zu können, in der sie am glücklichsten waren. Schließlich greifen die Staaten der Europäischen Union die Idee auf. Jedes Land hält ein Referendum ab, um zu entscheiden, in welches Jahrzehnt der Staat zurückkehren wird. Die Zeit wird plötzlich zu einem Ort, die Strukturen immer wirrer. Im Äußeren, aber auch in dem Kopf des Erzählers.

„Zeitzuflucht“ von Georgi Gospodinov gehört in eine ganz rare Kategorie von Büchern: jene, die mich verwirren, ratlos zurücklassen, aber die mir trotzdem gefallen haben. Ich gehöre zu der Sorte Leser, die es gerne klar haben. Klare Sprache, klare Strukturen, runde Geschichte. Gospodinovs Roman schert sich nicht darum. Von Anfang an stellt er den Leser vor Fragen, und je weiter man voranschreitet, um so mehr fällt alles in sich zusammen, verwirrt sich, wird ungreifbarer. Und das ist genial, weil das Buch damit auf seine Weise das nachzeichnet, was im Kopf eines an Alzheimer Erkrankten im Anfangsstadium passiert. Als Leser gehen wir den Weg mit dem Ich-Erzähler, für den die Grenzen zwischen Realität und eigener Fiktion immer mehr verschwimmen. Auch wir verlieren den Halt und die Orientierung.

Spannend fand ich auch, dass der Roman einen zu Gedankenspielen reizt. Welches Jahrzehnt würde ich auswählen, wenn ich die Wahl hätte (wobei man bedenken muss, dass man nicht wieder als derjenige dorthin zurückkehrt, der man war, sondern als der, der man jetzt ist)? Was würde passieren, wenn tatsächlich ganze Staaten die Zeit zurückdrehen und jedes in einer anderen Ära leben würde? Und natürlich drängt sich auch die Vorstellung auf, dass man selbst eines Tages zu denen gehören kann, die an dieser schrecklichen Krankheit leiden.

Zu guter Letzt habe ich mich auch gefreut, mal etwas von einem bulgarischen Schriftsteller zu lesen. Die Passagen, die in Gospodinovs Heimatland spielen, haben mich dazu animiert, mehr über diesen Staat zu erfahren, an den wir normalerweise allenfalls wegen seiner Badestrände und der hohen Armutsrate denken.

 Für mich war „Zeitzufluchten“ ein sehr spannender, wenn auch nicht greifbarer Roman. Er ist sicher nicht nach dem Geschmack der großen Masse, aber wenn man sich drauf einlässt und loslässt, kann man viel Individuelles daraus mitnehmen, weil es einen Teil dessen, wer wir sind und was wir fürchten auf uns zurückwirft. Beeindruckend!

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