Bei kaum einem anderen Thema der Sozialpolitik und damit der Gesellschaftspolitik in unserem Land wird mit Zahlen so manipuliert wie mit der Frage, wie viel Menschen im Land als arm bezeichnet werden sollen. Dabei macht es schon einen großen Unterschied aus, ob man als Referenzzahl 50% oder 60 % des mittleren Einkommens betrachtet. Linke und fast alle Sozialverbände neigen dazu, die Zahl der als arm geltenden Menschen hoch zu reden, die konservativen Interessensvertretungen im Land üben sich im Gegenteil. Verunsicherung auf breiter Linie ist die Folge:
„In einer Zeit der Verunsicherung und Desorientierung ist eine Selbstverständigung darüber nötig, wo wir als Gesellschaft in der Frage von Armut und Reichtum stehen, wie die Lage zu bewerten ist und wo es hingehen soll.“ So beschreibt der Autor des vorliegenden Buches, der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Willke seine Motivation für das Buch.
Es gelingt ihm gut, ein komplexes soziales Thema verständlich und anschaulich aufzubereiten, indem er die verschiedenen empirischen Methoden und historische Vergleiche erklärt. Sehr erhellend seine Hinweise darauf, wie man Armut früher definierte und welche Ansätze in der theoretischen Debatte es heute gibt. Alle in der Gegenwart von den unterschiedlichen Interessensgruppen vertretenen Positionen in der Armutsdebatte werden beschrieben, kritisch hinterfragt und gewürdigt.
Er kommt zu dem Schluss, dass eine Sozialpolitik gegen den Markt, wie sie immer noch betrieben wird, scheitern muss:
„Nachhaltige soziale Gerechtigkeit ergibt sich nicht durch reichliche Alimentierung der Armen auch nicht durch die Auspolsterung des ‚Verwöhnungsraums der Dauerversorgung’ (Sloterdijk), sondern durch eine Verbesserung des Zugangs zum Arbeitsmarkt und durch eine Erhöhung der Beschäftigungschancen. Die bisherige Sozial- und Armutspolitik entspricht dem Muster einer ‚fürsorglichen Vernachlässigung’ (Paul Nolte) derart, dass sie mit Geld abgespeist wird.“
Es kommt aber darauf an, die Hürden für die Erwerbsarbeit für die Hauptgruppen der relativ Armen nicht weiter zu erhöhen, sondern zu senken mit unterschiedlichen Maßnahmen. Grundlage dafür ist eine Stärkung der Enkulturation, der Sprachfähigkeit und der Lernbereitschaft von Kindern aus „sozial schwachen“ Familien.
„Chancenpolitik als Armutsbekämpfung“ nennt Willke das, und sagt: „Die wichtigste Funktion des Nachdenkens über die Armut ist die, ein besseres politisches Handeln zu begründen.“
Möge sein Buch dazu beitragen.