Cover des Buches Israel schafft sich ab (ISBN: 9783593397245)
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Rezension zu Israel schafft sich ab von Gershom Gorenberg

Wenn Ideal und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, schafft sich dann die Wirklichkeit ab?

von Dr_M vor 9 Jahren

Rezension

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Dr_Mvor 9 Jahren
Als der Autor vor mehr als drei Jahrzehnten als amerikanischer Student nach Israel kam, war er der Meinung, dass es sich bei diesem Land "um eine Gesellschaft handelte, in der ungewöhnliche Menschen ein ungewöhnliches politisches Engagement an den Tag legten". Ob diese Wahrnehmung durch die Realität tatsächlich gedeckt war, ist eher zweifelhaft.

Gorenberg glaubte, dass "es eine Aussicht auf die Verwirklichung eines liberalen Zionismus gab: auf die Schaffung einer Gesellschaft, in der Juden in der Mehrheit sind, ..., ... aber auch einer Gesellschaft mit vollen Rechten für Nichtjuden, einer Demokratie im vollsten Wortsinn."

Nun sieht er als israelischer Bürger diese Vision, die durch die israelische Verfassung gedeckt scheint, in Gefahr. Das versteht der Autor unter der Abschaffung Israels. Sein Buch, das für den deutschen Leser ohne Vorkenntnisse nicht immer einfach zu lesen ist, sieht er als "selektive und persönliche Reise durch Israels Vergangenheit und Gegenwart", um seine These zu untermauern. Israel müsse sich wieder auf sich selbst besinnen und sich in diesem Sinne neu gründen. Wie Gorenberg das meint, verdeutlicht er im letzten Kapitel dieses Buches.

Wenn man ausblendet, dass Israel von feindlichen Staaten umgeben ist, die offen oder verdeckt seine Vernichtung anstreben, ergeben Gorenbergs Thesen tatsächlich einen Sinn. Doch der Kriegszustand, in dem sich das Land mehr oder weniger ständig befindet, und die unversöhnlichen Ansprüche von extremen ideologischen oder religiösen Positionen haben ganz offensichtlich zu einer Wirklichkeit geführt, die mit den idealen Vorstellungen bei der Gründung Israels nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.

Israel, so klagt der Autor, halte sich weder an seine eigenen Gesetze, noch an Verträge, die es unterschrieben habe. Vielmehr führe seine Siedlungspolitik und die direkte oder verschleierte Ungleichbehandlung der arabischen Bevölkerung des Landes zu einem anderen Staatswesen als das Verfassungsmodell es gebietet.

Insbesondere der zunehmende Machteinfluss orthodoxer jüdischer Kreise sei in diesem Zusammenhang eine treibende Kraft. Inzwischen bestimmen die aggressiven Siedler, die ihre Landnahme als Forstsetzung einer zionistischen Tradition sehen und als religiöses Recht betrachten, und die ultraorthodoxe Bewegung der Talmud-Schüler bereits zu großen Teilen die israelische Politik. Wenn man dies besser verstehen möchte, ist das Buch eine sehr gute Quelle.

Gorenberg schreibt eher episodenhaft, aber doch systematisch, und er schildert diesen Einfluss plastisch und exemplarisch. Die Talmud-Schüler weiten sich immer mehr zu einem sozialen Problem in Israel aus. Sie besitzen separate Schulen, die jedoch jede weltliche Ausbildung ausschließen. Der israelische Staat finanziert also ein für die Gesamtgesellschaft völlig nutzloses Bildungssystem dieser Bevölkerungsgruppe und muss sich obendrein um die Versorgung von Leuten kümmern, die eine hohe Reproduktionsrate aufweisen, aber zu keiner nützlichen Arbeit fähig sind, weil sie dazu keine Ausbildung besitzen.

Die Siedler wiederum verhindern die angestrebte Zwei-Staaten-Lösung, die endlich Frieden in die Region bringen soll. Sie stellen jedoch auch wesentliche Teile des Führungspersonals der israelischen Armee. Das führte bereits zu ernsthaften Problemen. So kam es beispielsweise bei der Räumung des Gaza-Streifens zu Befehlsverweigerungen aus politischen Gründen, denn dort mussten Siedler in Uniform andere Siedler zur Aufgabe zwingen.

Das Buch ist in erster Linie für den israelischen Markt geschrieben, und es ist selbstverständlich ein politisches Buch und keine systematische wissenschaftliche Abhandlung von einem neutralen Standpunkt aus. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, weil der deutsche Leser die israelische Geschichte und ihre verschiedenen Strömungen nicht so kennt wie ein Israeli. Andererseits bietet dieser Text aber auch Einblicke, die sehr lehrreich sein und zu einer anderen Betrachtungsweise der israelisch-palästinensischen Beziehungen führen können.

Der Autor orientiert sich bei seinen Darlegungen an gewissen intellektuellen Idealvorstellungen, die überall in der Welt gerne formuliert werden, doch an die sich kaum eine Regierung oder ein Staat hält. Natürlich kann man das beklagen, insbesondere wenn dies so offensichtlich ist wie in Israel. Doch der Glaube, dass ein Israel im demokratischen Idealzustand und eine Zwei-Staaten-Lösung dazu führen würde, dass sich auch alle Nachbarstaaten zu einer Form der westlichen Demokratie aufraffen würden, und dann die Existenz des jüdischen Staates anerkennen und begrüßen würden, erscheint dann doch etwas naiv.

Wenn man etwas aus diesem Buch lernen kann, dann ist es ein besseres Verständnis der innenpolitischen Situation Israels und der sich daraus ergebenden außenpolitischen Konsequenzen. Ganz nebenbei wird dem Leser auch klar, wie außerordentlich verfahren die Lage in dieser Region wirklich ist.
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