Museumsverein traf mit Lesung ins Schwarze
Von unserer Mitarbeiterin Katja Stieb
Autobiografien stehen im Ruf, oft informativ und spannend zu sein. Doch manchmal gewinnt man auch den Eindruck, dass der Autor sein Leben nur aufgeschrieben hat, um sich von einer Last zu befreien, um mit einer Geschichte abzuschließen, die Kraft gekostet und Sorgen bereitet hat.
Bei der 1947 in Nierstein am Rhein geborenen Gertrud Winter ist das anders: „Nein, ich habe mein Leben aufgeschrieben, um ein Stück Geschichte zu bewahren“, sagt sie. „Für meine Kinder, meine Enkelkinder und für alle, die sich dafür interessieren. Für mich war das Schreiben kein reinigender Prozess, sondern eine sehr emotionale und wunderschöne Reise in meine Erinnerung.“
„Lebet wohl, ihr engen, staub’gen Gassen. Aus dem Leben einer Rheinschiffer- Familie“ heißt Gertrud Winters Werk, das sie am Wochenende im Knielinger Museum auf Einladung des Museumsvereins vorstellte. Dessen Vorsitzende Ute Müllerschön unterstrich, dass Lage und Ambiente des Museums perfekt zum Thema des Buches passten: „Wo könnte man den Erinnerungen eines Schifferkindes besser lauschen, als in einem Museum direkt am Rhein, das obendrein eine Schifffahrts-Ausstellung beherbergt?“, fragte sie schmunzelnd. „Wir als Verein wünschten uns im 25. Jahr unseres Bestehens eine interessante Lesung für unser Kulturprogramm: Ich denke, wir haben Dank Gertrud Winter thematisch ins Schwarze getroffen.“
Die Geschichte von Gertrud Winters Kindheit und Jugend, die sie mit ihrer Familie über weite Strecken auf einem Rheinschiff verbrachte, ist mehr als nur Autobiografie. Es ist eine Zeitreise durch Kriegs- und Friedenszeiten, liefert Schlaglichter aus der Nazi-Zeit und der Ära des deutschen Wirtschaftswunders, und entführt den Leser an unterschiedlichste Orte. Die Geschichte beginnt schon mit ihren Eltern Anna und Philipp und endet erst im Jahr 1980. Sie erzählt vom harten Leben auf einem Schiff zwischen Rotterdam und Basel, von der Möchtegern-Idylle eines Dorfs in den 1950er Jahren und dem Alltag in einer Studenten-Wohngemeinschaft um 1970.
Dass Gertrud Winter ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben hat, ist ihrer Tochter Julia Arbeiter zu verdanken, die
als professionelle Sprecherin am Samstag die Lesung aus dem Werk ihrer Mutter übernahm. „Julia war es, die vor rund zehn Jahren zu mir sagte: ‚Mama ,schreib’ das doch mal auf!’“, erinnert sich Gertrud Winter. „Ich weiß noch, dass ich das zunächst irgendwie für eine verrückte Idee hielt.“ Verrückt wohl auch deshalb, weil Gertrud Winter nie gerne geschrieben hat: Sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche und hatte überhaupt keine Erfahrung mit dem Computer. „Meine Tochter hat mir mit viel Geduld den Umgang damit beigebracht“,
sagt Gertrud Winter. „Ich kann ihr dafür gar nicht genug danken.“ Während des Schreibens sei sie immer
wieder auf Erinnerungsfragmente gestoßen, die längst verschüttet waren, und konnte in Gesprächen mit ihren drei
Geschwistern viele Lücken füllen. „Drei Jahre lang hatte ich fast täglich geschrieben“, erklärt Winter. „Dann lag das Manuskript jahrelang in der Schublade. Jetzt, da mein Leben in Buchformgebracht ist, freue ich mich über die große Resonanz.“
Die kommt nicht von ungefähr: Das Werk lebt von einer überaus lebendigen Sprache, erweist sich als fesselndes historisches Dokument und berührende Familiensaga zugleich. Gertrud Winters Buch erzählt von Aufbruch und Heimkehr, von der Notwendigkeit, neue Kapitel aufzuschlagen ohne die eigenen Wurzeln zu vergessen. Es ist eine Geschichte, die so authentisch wie packend ist. Eine, die eben nur das Leben selbst schreiben kann.
AUTHENTISCH UND PACKEND: Gertrud Winter (rechts) erzählte im Knielinger Museum aus ihrer Lebensgeschichte als Spross einer Rheinschiffer-Familie. Ihre Tochter Julia Arbeiter hatte die Lesung aus dem Buch ihrer Mutter übernommen. Foto: Sandbiller