„Dass die Vergangenheit nicht ein zurückgelassener, leerer Platz ist, sondern eine Aufgabe, die man noch zu bewältigen hat, die man immer wieder aufsucht, ist einer der Kerngedanken von Benjamin und Adorno, man könnte sogar sagen: eine Obsession.“
Schon das zweite Mal in diesem Jahr, dass ich Walter Benjamin und Adorno in einem Text treffe, ich freu mich.
Gesa Jessens Buch "Ein lautes Lied" handelt von der namenlosen Ich-Erzählerin, die sich von ihrem Liebsten getrennt hat, um in Oxford zu promovieren. Er bleibt in Berlin.
Sie leidet unter dieser Trennung sehr und denkt unablässig an ihn und diese Liebe, „... die groß und unsinnig und kaputt ist“.
Der Text lebt von Rückblicken und Anekdoten aus der Beziehung. Der anhaltende Wunsch der Protaginistin ihr Freund wäre "verzweifelt und verliebt genug" gewesen, sie festzuhalten, zieht sich durch das Buch.
Obwohl es ein sehr schmaler Band von ca. 160 Seiten ist, habe ich länger gebraucht, es durchzulesen, als den dicken Wälzer "Morgen, morgen und wieder morgen" mit seinen fast 600 Seiten, einfach weil der Text mit soo vielen literarischen Bezügen und Zitaten geschmückt ist, z.B. von Rilke, Brecht, Patti Smith, Heinrich Heine, Jorge Luis Borges, Richard Wagner, Franz List und vielen weiteren.
Philosophische Referenzen, die im Text ebenso häufig zu finden sind, stammen von Marcuse, Lacan, auch den Vertretern der Frankfurter Schule, allen voran Adorno und Hegel. Indirekt verweist Jessen auf den theoretischen Diskurs von Foucault und Derrida. Oder habe ich das nur hineininterpretiert?
All diese Zitate und Verweise verflechten sich zu einer Ebene, hinter die die Handlung zurücktritt.
Dieser Text ist kein gewöhnlicher Roman, aber auch kein rein philosophischer Essay. Er experimentiert mit den Grenzen der literarischen Gattungen, sprengt sie auf und ist deshalb vielleicht ein Mischwesen: Ein Prosaessay über die Liebe und ihre Wahrnehmung.
Eine spannende Lektüre! Empfehlung für Philosophiefans und experimentierfreudige Leser*innen!