Cover des Buches Das Tagebuch der Patricia White (ISBN: 9783864431548)
WolfgangBs avatar
Rezension zu Das Tagebuch der Patricia White von Gian Carlo Ronelli

Sigmund Freud und der Feuerwehrmann

von WolfgangB vor 11 Jahren

Kurzmeinung: Mit genialem Konzept sägt Giancarlo Ronelli respektlos an Fitzeks Thriller-Thron.

Rezension

WolfgangBs avatar
WolfgangBvor 11 Jahren
Bevor Sebastian Fitzek über geisteskranke Augenärzte schrieb und anatomiekursartige Fernobduktionen durchführen ließ, trieb er ein relativ blutarmes sadistisches Spiel mit einem Psychiater namens Viktor Larenz.
Wulf Dorn wiederum weidet sich daran, die Psychiaterin Ellen Roth durch das Labyrinth ihrer Angst zu jagen und sie immer wieder an unsichtbare Wände prallen zu lassen.
Als seltene Juwelen auf einem mittlerweile wohlbestellten Thrillerfeld lassen sich jene Geschichten - zumeist Erstlingswerke - ausmachen, in denen der Autor als raffinierter Puppenspieler seine Figuren vor den staunenden Augen des Lesers erscheinen und verschwinden läßt und immer wieder eindrucksvoll demonstriert, wie trügerisch Konzepte wie Wahrnehmung oder Erinnerung sein können. Entsprechend lange und sorgfältig muß man daher suchen, um Namen zu finden, die man im Regal guten Gewissens neben Fitzek und Dorn einordnen kann.

Endlich ist nun mit Giancarlo Ronelli ein solcher gefunden.
Endlich wieder ein Autor, der seine Leser ebenso leidenschaftlich an der Nase herumführt wie seine Protagonisten.
Endlich wieder ein Buch, das sich einer konventionellen Rezension entzieht.

Wie aber rezensiert man "Das Tagebuch der Patricia White"?

Man könnte zunächst den Plot zusammenfassen, der darin besteht, daß ein Mann ohne jegliche Erinnerung an sich selbst oder seine Vergangenheit in einem Hotelzimmer erwacht und anhand der Überreste von Schlaftabletten feststellt, daß er einen erfolglosen Selbstmordversuch hinter sich hat. Auf seiner Suche nach Klarheit findet er heraus, daß sein Name Jack Reynolds lautet und er als Feuerwehrmann in New York arbeitet. Er stößt auf das titelgebende Tagebuch eines querschnittsgelähmten Mädchens namens Patricia White, das bei einem Brand ums Leben kam, weil Jack sie nicht rechtzeitig gefunden hatte. Warum aber deutet alles darauf hin, daß Patricia Opfer eines Verbrechens wurde? Warum wird Jack von Männern gejagt, die ihn für eben dieses Verbrechen zur Verantwortung ziehen wollen. Was hat es mit den furcheinflößenden Visionen, auf sich, von denen er heimgesucht wird? Und welche Rolle spielt Jacks zwei Monate zuvor verstorbener Vater bei all dem?

---[ S P O I L E R ]---

Man könnte die offenkundige Auseinandersetzung des Autors mit der Psychoanalyse erkennen und die zahlreichen an Sigmund Freud erinnernden Symbole interpretieren, die das erste Drittel des Buches dominieren. Dabei würde man die ungeborene Zwillingsschwester und den Sarg als Geburts- und Todesmetaphern betrachten, die Schlage durch die vorgegebene religiöse Konnotation als Vertreibung aus dem Paradies der unbeschwerten Kindheit und die latenten Vatermordphantasien als schwärenden Ödipuskomplex. Das starke Feuer-Thema müßte als Manifestation einer Zäsur im Leben verstanden werden, im Zuge derer eine radikale Reinigung erfolgt, die einen Neubeginn erzwingt. Im Interesse der Zeichensprache wäre natürlich auch jene Szene zu würdigen, in der Jack - noch immer im Zustand der Amnesie - in sein Elternhaus (Symbol des Selbst) zurückkehrt, sich dort anhand der (Erinnerungs-)Bilder orientiert, um schließlich gewaltsam die Tür zum Keller aufzubrechen, in dem düstere Geheimnisse der Enthüllung harren.

Man könnte auch die innovativ-originelle Technik, einen Tathergang tatsächlich im Rücklauf zu erzählen, hervorstreichen und als konsequente Weiterentwicklung der umgekehrten Seitennumerierung in Fitzeks "Augensammler" verstehen. Dabei werden nämlich die Schlüsselszenen in Jacks Leben anhand nur minutenlanger Episoden in chronologisch verkehrter Reihenfolge erzählt, was in besonderer Weise die Aufmerksamkeit des Lesers erfordert, ihn dadurch stärker in den Roman involviert und ihm das Gefühl vermittelt, vom Autor in angemessenem Ausmaß gefordert - weder über- noch unterfordert - zu werden.

Man dürfte auch nicht die elegant mittransportierte philosophische Frage vergessen, inwieweit die erbliche Veranlagung einen Menschen prägt und inwieweit ein Mensch Herr seiner eigenen Entscheidungen ist, wenn der Autor Jacks Vater als geisteskranken Serienmörder erscheinen läßt und dabei Assoziationen zu John Katzenbachs "Das Rätsel" oder Chevy Stevens' "Never Knowing" herstellt. Natürlich nur so lange, bis sich dieser Verdacht als eine von zahlreichen falschen Spuren herausstellt, auf die der Autor den Leser lockt.

Und man müßte auch erwähnen, wie bereitwillig, ja geradezu gierig man als Leser zu jeder angebotenen Lösung greift, die sich dann doch wieder nur als bloßer Teilaspekt des großen Ganzen relativiert.

Könnte, müßte, sollte man.
Man könnte sich aber auch einfach auf das Erlebnis einlassen, durch die Geschichte gehetzt zu werden, in Gedanken eine offene Frage nach der anderen notierend. Dann würde man, atemlos auf der letzten Seite angelangt, durchschnaufen, die Ruhe suchen, um seine eigenen Überlegungen anzustellen. Und schließlich würde man mit wachsendem Respekt vor dem Autor feststellen, daß es ihm gelungen ist, alle losen Enden plausibel miteinander zu verbinden und damit einen anspruchsvollen Thriller zu verfassen, der das dringende Bedürfnis nach einem Meisterwerk in der Menge mittelmäßiger Mördermärchen stillt.
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks