Cover des Buches Die Schuld der anderen (ISBN: 9783827012272)
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Rezension zu Die Schuld der anderen von Gila Lustiger

Macht und Ohnmacht.

von Gulan vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Ein vielschichtiges Buch: Krimi, Thriller, Gesellschaftsroman. Ein überzeugender Blick auf die "Grande Nation".

Rezension

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Gulanvor 10 Jahren
Ich bin ja durchaus ein Freund der klassischen Tragödien. In denen sich der tragische Held immer weiter in sein Unheil verstrickt, „schuldlos schuldig“, um am Ende eine Katastrophe heraufzubeschwören. Eine ähnliche Tragik strickt Gila Lustiger in ihrem neuesten Roman, allerdings subtiler, unmerklicher als die alten Griechen oder gar Shakespeare. Der Leser erhält nur eine vage Ahnung, ein ungewisse Botschaft zwischen den Zeilen, von der man nicht sicher sein kann, ob sie sich bewahrheitet.

Lustigers Held ist der Pariser Journalist Marc Rappaport. Knapp über vierzig, angestellt bei einer führenden linksliberalen Zeitung, spezialisiert auf ausführliche Reportagen und Recherchen, immer auf der Suche nach einem Scoop. Marc ist ein intellektueller Linker, zwar eher theoretisch, denn im Klassenkampf versiert, aber mit einem ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und einer Abneigung gegen gesellschaftliche Verwerfungen. Doch die Autorin tut gut daran, Marc nicht als naiven Gutmenschen zu skizzieren. Marc ist als Kind sehr stark von seinem Großvater Arnaud Delorme geprägt worden. Delorme war ein Großunternehmer und Strippenzieher, mit allen Wassern gewaschen sowie politisch und wirtschaftlich in Frankreich bestens vernetzt. Doch obwohl sein Lieblingenkel Marc seine Fußstapfen in der Familienholding ablehnt und sich mit einem Aufsichtsratssitz begnügt, ist er dennoch doch seinen Großvater geprägt. Als Journalist ist er immer auf der Jagd nach dem großen Ganzen, dabei verliert er teilweise die Einzelschicksale aus dem Blick. Er ist zur Durchsetzung seiner (hehren) Ziele bereit, die Grenzen des Berufsethos und der Legalität zu dehnen, wenn nicht gar zu überschreiten. Privat ist er bindungsscheu und stets bemüht, keine großen Verpflichtungen einzugehen. Erst im Laufe dieses Romans bemerkt er eine größere Verbundenheit zu seiner aktuellen Freundin Deborah.

Ein neu aufgerollter Kriminalfall erweckt das Interesse von Marc Rappaport. Dreißig Jahre nach dem brutalen Mord an der jungen Prostituierten Emelie Thevenin wird aufgrund einer alten, nun erstmals ausgewerteten DNA-Spur, Gilles Neuhart als Täter festgenommen. Marc ist bei einer Vernehmung des biederen Familienvaters anwesend und ist sich sicher, dass hier nicht der wahre Täter festgenommen wurde. Er beginnt im Umfeld und im Leben der Toten zu recherchieren und reist nach Charfeuil, in die Provinz. Hier kommt er mit Glück, Geschick und Gespür einem Arbeitsschutzskandal auf die Spur: Arbeiter zweier Chemiefirmen wurden jahrelang wissentlich krebserregenden Substanzen ausgesetzt. Marc verbeißt sich in den Fall, versucht die Wahrheit ans Licht, aber vielmehr den Betroffenen eine Entschädigung zu bringen. Doch im Hintergrund schwelt noch die Frage: Wer ist der Mörder von Emelie?

Autorin Gila Lustiger lebt seit 25 Jahren in Paris und gibt dem Leser einen tiefen Einblick in die „Grande Nation“. Sie hat hier einen erstaunlichen Zwitter aus Krimi, Thriller und Gesellschaftsroman geschrieben. Neben der eigentlichen Kriminalhandlung fügt sie en passant und ziemlich versiert zahlreiche gesellschaftliche und politische Themen Frankreichs in die Romanhandlung ein. Gerade wenn man glaubt, dass die Autorin zu sehr abschweift, greift sie aber den roten Faden wieder auf und treibt die Geschichte voran. Eine Geschichte von Geld, Macht, Intrigen, politischen Seilschaften und Vertuschung. Protagonist Marc verstrickt sich immer mehr in diesem Geflecht. Doch wer trägt die Schuld an den Zuständen, ist es wirklich immer nur „die Schuld der anderen“?

„Er blickte seinen Jugendfreund an. Er glaubte an seinen Beruf und er glaubte an seine Ehe, sein Himmel war, obwohl er die vierzig überschritten hatte, noch immer voller Geigen. Er war eben der Sohn seiner Eltern geblieben, Lehrer mit einem soliden, wenn auch naiven Wertesystem. Er hingegen war im Schatten seines Großvaters aufgewachsen. Das machte ihn hellhörig und in gewisser Weise auch abgefeimt.“ (S. 381)

Ein sehr intelligenter, vielschichtiger Roman und ein Blick in die Abgründe der französischen Gesellschaft. Sprachlich und stilistisch ebenfalls überzeugend. Ein echtes Highlight zu Beginn des Lesejahres 2015.

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