Rezension zu "Eine ganze Welt" von Goldie Goldbloom
„Wenn sie die Schwangerschaft irgendwie beenden könnte auf eine Weise, die nicht zu schrecklich war, die rabbinisch sanktioniert war, sie würde es tun. Wäre auf und ab hüpfen hilfreich? Oder bäuchlings auf dem Boden liegen? Beten? Sie wusste es nicht. Sie hatte Angst, es zu versuchen. Sie wollte nichts Verbotenes tun.“
INHALT:
Surie Eckstein kann es kaum glauben, als sie erfährt, mit 57 Jahren nochmals schwanger zu sein. Mit Zwillingen! Wie ist das nur möglich?
Generell sieht ihre chassidische Großfamilie Kinder als das größte Glück auf Erden.
Aber in ihrem Alter doch nicht! „Sie schämte sich für sich selbst, für ihren heimtückischen Körper.“
Was sollen nur die Leute denken!?? In ihrer chassidischen Gemeinde in Brooklyn ist Surie hoch angesehen, sie halten sich an die strengen Regeln ihres Glaubens. Was wird ihr Mann Yidel, der Rabbi dazu sagen? Wird die Familie sie dafür verstoßen? Der schlechte Ruf wird schließlich auf sie alle zurückfallen!
Surie hatte sich darauf gefreut, die nächsten Jahre etwas mehr Zeit für sich zu haben. 10 eigene Kinder hat sie über die Jahre hinweg zur Welt gebracht und auch die 32 Enkelkinder sorgen weiterhin für ein turbulentes Familienleben im Haus.
Yidel plant, in den Ruhestand zu gehen. Wie soll sie ihm das nur beibringen?
Plötzlich steht ihr ganzes Leben auf dem Kopf...
MEINUNG:
Nach „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ und „Unorthodox“ wollte ich schon länger weitere Bücher über ultraorthodoxe Juden lesen. In „Eine ganze Welt“ setzt sich ein weiterer Roman mit dieser Thematik auseinander. Mich persönlich hat er sogar noch mehr beeindruckt, als die zwei anderen.
Erneut war ich erstaunt, welche strengen Vorschriften, Gebote und Rituale in der chassidischen Gemeinde herrschen.
Auch Surie selbst hat genaue Vorstellungen davon, was das Auftreten, Kleidung und Manieren angeht.
Immer wieder gab es Dinge, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie für andere als unanständig oder nicht angebracht gelten würden.
Manches fand ich auch schlimm. Z. B., dass die Kinder manche ihrer eigenen Körperteile nicht benennen können, weil sie keine Worte dafür beigebracht bekommen (weltliche Bücher bekommen sie ja nicht zu Gesicht). Bei medizinischen Problemen, Schwangerschaft oder Missbrauch, kann das durchaus auch mal problematisch werden! Allgemein scheinen die Menschen dort nur wenig aufgeklärt zu sein.
Auch Surie plagen viele Fragen und Sorgen, als sie aufgrund ihrer Risikoschwangerschaft die Klinik aufsuchen muss, was sie gerne vermieden hätte.
Noch nie hat sie vorher eine anatomische Abbildung eines Frauenkörpers zu Gesicht bekommen. Das gehört sich doch nicht! Dazu kommen Sprachbarrieren, da sie vor allem Jiddisch und nur wenig Englisch spricht.
Verständlich, dass dies bei der werdenden Mutter Ängste schürt. Für sie prallen zwei komplett verschiedene Welten aufeinander, die sich nicht einfach miteinander vereinbaren lassen!
Mir tat sie stellenweise wirklich leid. Sie steckt in einer verzwickten Lage und hat schon einiges mitgemacht.
Aber gleichzeitig habe ich mich auch richtig über sie geärgert! Warum muss sie sich selbst so fertig machen? Warum geht sie davon aus, dass alle Menschen wegen einer späten Schwangerschaft schlecht über sie reden und sich von ihr abwenden werden? Wieso hat sie so einen Hass auf sich selbst? Warum quält sie sich so sehr?
Ich hätte ihr gerne hin und wieder einen Schubs verpasst, damit sie endlich diese Unsicherheiten aus dem Weg räumt, ihre Sorgen und Ängste mit anderen teilt und Unterstützung aus ihrem Umfeld erfährt!
Als Leser*in bekommt man vor allem einen Einblick in Suries Umgang mit der bevorstehenden Geburt, aber auch in das Familien- und Glaubens-Leben aus ihrer Perspektive. Die große Anzahl an Kindern in den Familien hat mich sehr beeindruckt. Doch die Frauen scheinen diese als ihre größte Aufgabe zu sehen. Sie betrachten Kinder als das Wertvollste überhaupt: „Mein ganzes Leben ist Kindern gewidmet, Kinder zu kriegen, Kinder großzuziehen.“
Das Buch rüttelt an einem. Es zeigt auf, wie wichtig Kommunikation und Vertrauen in einer Beziehung sind. Und es wirft Fragen auf: Ist die strikte Einhaltung von strengen religiösen Geboten und Ritualen so viel Leid und Kummer wert? Steht dies wirklich über dem Wohlergehen aller? Was wiegt mehr? Was, wenn jemand vom rechten Weg abkommt? Und wie weit ist man selbst bereit zu gehen, egal, was andere sagen?
FAZIT: Ein Buch, welches beim Lesen an einem rüttelt und einen nicht so schnell wieder loslässt. In mir klingt es noch immer nach und ich habe es regelrecht inhaliert. Wen das strenge chassidische Familien- und Glaubensleben interessiert, oder wer bereits Romane wie „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ und „Unorthodox“ mochte, dem kann ich das Buch sehr ans Herz legen! Ganze 5/5 Sterne!
(TW: U. a. Risikoschwangerschaft, Suizid, HIV, Missbrauch („nur“ benannt), Tod,… Man könnte noch mehr aufführen, aber dann würde ich zu viel verraten.)
ANMERKUNG: Bei der Ausgabe würde ich eine Print-Version gegenüber einem digitalen Exemplar bevorzugen, da das Buch hinten ein Glossar mit vielen jiddischen Begriffen sowie einen Familienstammbaum beinhaltet, was zum Blättern oft praktischer sein kann.