Normalerweise lese ich ein Buch dieser Stärke (gute 180 Seiten) in wenigen Tagen. In diesem Falle war das anders, ich brauchte viel länger, was allerdings nicht Sebastian Gollas im Selbstverlag publizierten "Aufzeichnungen eines Sammelkartenspielers" (Zitat Untertitel) geschuldet war, sondern dem privaten Dilemma, in dem sich wohl viele Menschen meines Alters befinden, der sogenannten rush hour des Lebens, was letztlich nur einen andauernden Regenschauer aus notwendigen Banalitäten bezeichnet, die einen tagein, taugaus belästigen und vom Müßiggang abhalten, für den man erst wieder Zeit hat, wenn man dafür zu aufgebraucht und müde ist ... Aber es geht hier nicht um mich, sondern ums Buch. Es gibt jedoch Parallelen.
Rufus Klipsch ist so ein Mann, der - vordergründig spannend - beim Landeskriminalamt arbeitet. Doch entgegen naheliegenden Erwartungen (Mord, Totschlag, Organisierte Kriminalität, spektakuläre true crime und so weiter) ist Rufus angehalten, hate speech in Excel-Tabellen zu dokumentieren. Notwendige Banalitäten eben. Und überhaupt ist das Leben nicht weiter erzählenswert, sind die matten Wellenschläge seines trüben Dahinfließens profane Ärgernisse wie der Gestank nach frittiertem Hähnchen: "Durch das fettige Treppenhaus begab ich mich zurück in meine Wohnung." (Ich fühle mich an Nabokov erinnert, der in "Lolita" von der "knoblauchigen Alten" schreibt, und hier wie dort manifestiert sich die unerträgliche Leere menschlichen Seins in einer Zumutung an die Geschmacksorgane.) Es sind (natürlich) die Alltäglichkeiten, die Rufus in seine einstige Jugendleidenschaft flüchten lassen: das Sammelkartenspiel, oder auch trading card game (tcg). Was dem Außenstehenden (mir) zuvor als Bespaßung von jungen Menschen und erwachsenen Nerds erscheinen mag, wird in Sebastian Gollas Roman durch die ausführlichen Sequenzen darüber wahrlich entblättert; tcg befriedigen den Konsum-, Sammel- und Spieltrieb gleichermaßen, und daneben erfordern sie Fantasie und trainieren strategisches Denken. Nicht zuletzt machen sie einen zum Teil einer Szene. So gesehen: wow. Ein besserer Zufluchtsort als der Alkoholrausch, Glücksspielautomaten oder Endlosscrollen in social media ist das allemal.
Hat jemand wie Rufus Klipsch was mit Frauen am Laufen? Auch, ja, vielleicht mit einer. Aber darum geht es wenig, nicht viel mehr als um das nicht so richtig trocknen wollende Daunenkissen. Die übliche Liebesgeschichte, die oft selbst blutigen Thrillern beigemengt wird, entfaltet sich in "Lebende Legenden" nicht. Stattdessen werden tgc-Partien ausgebreitet, und Rufus durchläuft eine Turnierkarriere. Auch, wenn "Lebende Legenden" sicher nicht der klassischen Dramaturgiekurve folgt, so erlebt die Story doch ihren Höhe- und Wendepunkt, der an dieser Stelle selbstverständlich nicht gespoilert wird.
Sebastian Golla ist ein nüchterner, oft erfrischend lakonischer Erzähler, mitunter auf eine sehr direkte Art: "Mit ihren billigen Anzügen und Bildschirmpräsentationen, bei denen die voreingestellte Schriftart des Betriebssystems verwendet worden war, waren sie einfach nur langweilig." So lässt sich "Lebende Legenden" gut lesen, und was bleibt, ist für mich ein dankenswerter Einblick in eine Nische, der mir ohne diesen Roman verwehrt geblieben wäre, und der bereichernd ist.