Rezension zu "The Month That Changed the World: July 1914 and Wwi" von Gordon Martel
Andreas_Oberendervor 4 JahrenMit dem Buch des kanadischen Historikers Gordon Martel hat nun auch Oxford University Press einen Beitrag zum diesjährigen Weltkriegsjubiläum beigesteuert. Ein Vergleich mit dem thematisch identischen Buch von Thomas Otte, erschienen bei Cambridge University Press, ist reizvoll und lohnenswert. Um es vorwegzunehmen: Martels Buch weist zwar auch Schwächen auf, ist im Großen und Ganzen aber besser geeignet, um ein aussagekräftiges Bild von der Juli-Krise zu gewinnen. Das Buch ist kürzer, die Darstellung kompakter, der Personenkreis kleiner und daher besser überschaubar. Martel verliert sich nicht in nebensächlichen Details, denn er stützt sich auf eine begrenzte Zahl von einschlägigen Quelleneditionen. Man kann, das zeigt Martels Buch, den Verlauf der Juli-Krise rekonstruieren, ohne eine Unmenge obskurer Telegramme und Gesprächsnotizen heranzuziehen wie es Otte tut, dessen Darstellung viel zu detailverliebt ist.
Im Aufbau und hinsichtlich der theoretischen Vorannahmen ähneln sich beide Bücher in auffälliger Weise. Das Handeln der Akteure (agency) steht im Mittelpunkt; strukturelle und systemische Faktoren spielen keine Rolle. Auch Martel bietet keine Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. In einem kurzen Prolog konstatiert er, das europäische Mächtesystem habe bis 1914 mehr oder weniger gut funktioniert und die Einhegung von Konflikten gewährleistet. Umso erklärungsbedürftiger sei der Ausbruch des Krieges im Sommer 1914. Martel schildert die Konfliktlagen auf dem Balkan, das Attentat von Sarajevo, die Reaktionen in den Hauptstädten der fünf Großmächte und das Zusammenspiel zwischen Wien und Berlin bis zur Übergabe des österreichischen Ultimatums an Serbien. Erst mit dem Ultimatum lässt er die eigentliche Juli-Krise beginnen. Eine Tag-für-Tag-Rekonstruktion des Ereignisverlaufs vom 24. bis 31. Juli macht quantitativ den Hauptteil des Buches aus. Martel versucht, allen fünf Großmächten gleichermaßen gerecht zu werden. Dennoch macht sich ein gewisses Ungleichgewicht bemerkbar. Die Vorgänge in Petersburg und Paris nehmen unter dem Strich weniger Raum ein als das Geschehen in Wien, Berlin und London.
Damit ist auch schon ein wesentlicher Kritikpunkt angesprochen. Die Rolle Russlands und Frankreichs bleibt unterbelichtet. Nirgendwo setzt sich Martel systematisch mit den Arbeiten und Thesen von Sean McMeekin und Stefan Schmidt auseinander. McMeekins Buch "The Russian Origins of the First World War" (2011) taucht nicht einmal in der Bibliographie auf. Auch auf Schmidts wichtige Studie über Frankreichs Rolle in der Juli-Krise geht Martel nicht ein (was nicht an mangelnden Deutschkenntnissen liegt). Versteckt in den Endnoten (S. 441, Anm. 144) findet sich die Behauptung, Schmidts These, Präsident Poincaré habe während seines Aufenthaltes in Petersburg (20. bis 23. Juli) der russischen Führung weitreichende Beistandszusagen gemacht, sei "nicht überzeugend". Eine Begründung für dieses Urteil liefert Martel nicht. So kann man sich als Historiker und Autor die Arbeit sehr einfach machen! Dazu passt, dass Martel den Poincaré-Besuch, eine seit jeher kontrovers diskutierte Etappe der Juli-Krise, auf gerade mal drei Seiten abhandelt (S. 152ff.). Dieses nonchalante Ignorieren des aktuellen Forschungsstandes ist vollkommen indiskutabel.
Ansonsten bietet das Buch viel Bekanntes und nichts Überraschendes. Martel versammelt alle gängigen Motive, die letztlich in jeder seriösen Darstellung der Juli-Krise vorkommen: Österreich-Ungarn wollte einen Strafkrieg gegen Serbien führen, um seinen fragwürdig gewordenen Großmachtstatus zu bekräftigen und der russischen Balkanpolitik einen Dämpfer zu versetzen. Darin wurde es vom Deutschen Reich unterstützt, das darauf spekulierte, der Entente eine diplomatische Niederlage beizubringen. Die Mittelmächte setzten auf eine Lokalisierung des Balkan-Konflikts, während Russland und Frankreich eine Internationalisierung herbeiführen wollten, um Wiens aggressive Pläne zu durchkreuzen. Beide Seiten nahmen eine unnachgiebige, kompromisslose Haltung ein, was wesentlich zur schrittweisen Eskalation der Krise beitrug. Der britische Außenminister Grey warb hartnäckig für eine Verhandlungslösung, fand aber in Berlin und Wien kein Gehör. Mit der frühen russischen Mobilmachung, die Martel ähnlich wie Otte als reine Drohgebärde abtut, wurden die Weichen endgültig in Richtung Krieg gestellt.
Im letzten Kapitel des Buches skizziert Martel die Wege und Irrwege der Forschungsgeschichte. Außerdem fasst er seine Deutung der Juli-Krise in mehreren Thesen zusammen. Anders als Otte hält Martel die beteiligten Akteure nicht für inkompetent und überfordert. Keiner von ihnen - auch nicht Berchtold oder Bethmann Hollweg, Sazonov oder Poincaré - wird mit einem vernichtenden Urteil bedacht. Martel ist der Auffassung, die Politiker, Diplomaten und Militärs in den fünf Hauptstädten hätten rationale, intelligente, wohlkalkulierte, nachvollziehbare Entscheidungen getroffen. Niemand sei ahnungslos in den Krieg "geschlafwandelt" (S. 420). Es sei zum Krieg gekommen, weil alle fünf Mächte von Abstiegs- und Verlustängsten geplagt worden seien, weil Ehre, Prestige und Großmachtstatus aus Sicht der Akteure nur noch durch den Griff zu den Waffen verteidigt werden konnten. Ein Nachgeben gegenüber dem gegnerischen Block, so die Furcht der Politiker und Diplomaten, hätte zu einem Ehr- und Gesichtsverlust, zu einer folgenschweren diplomatischen Niederlage geführt. Das ist kein origineller, sondern ein mittlerweile sattsam bekannter Erklärungsansatz für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Genau wie Otte, aber im Unterschied zu McMeekin (siehe dessen Buch "July 1914. Countdown to War") verzichtet Martel darauf, die Verantwortung der fünf Mächte zu gewichten und zu differenzieren. Er ist der Meinung, das "Blame Game" sei nicht zu gewinnen und daher von vornherein sinnlos. Das mag politisch korrekt sein, wirkt aus wissenschaftlicher Sicht aber so, als sei der Autor zu timide, um eine klare - und gegebenenfalls für manche Leser unbequeme - Position zu beziehen. Der Verzicht auf Gewichtung und Differenzierung passt im Übrigen auch nicht zu der Nachsicht, mit der Martel Russland und Frankreich behandelt. Indirekt weist er letztlich doch Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges zu. Alles in allem ist Martels Buch solide und brauchbar, auch wenn es insgesamt zahm und konventionell wirkt. Diskussionen wird es nicht auslösen, aber für eine erste ernsthafte Beschäftigung mit der Juli-Krise ist es allemal geeignet. Nach der Lektüre regen sich allerdings erneut Zweifel, ob der Ausbruch des Ersten Weltkrieges angemessen erklärt werden kann, wenn man sich nur auf den Juli 1914 konzentriert, die Vorgeschichte jedoch ausblendet, so wie es Martel, Otte und McMeekin tun.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juli 2014 bei Amazon gepostet)