Cover des Buches Romeo und Julia auf dem Dorfe (ISBN: 9783150061725)
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Rezension zu Romeo und Julia auf dem Dorfe von Gottfried Keller

Rezension zu "Romeo und Julia auf dem Dorfe" von Gottfried Keller

von Heike110566 vor 14 Jahren

Rezension

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Heike110566vor 14 Jahren
Gottfried Keller (1819-1890) war ein herausragender Novellendichter. Mehrere Bände, die ausschließlich diese Erzählungsform enthielten, veröffentlichte der schweizer Autor. 1856 erschien der erste Band der Novellensammlung "Die Leute von Seldwyla", aus der "Romeo und Julia auf dem Dorfe" stammt. In einem Dörfchen vor dem Städtchen Seldwyla leben der Bauer Marti und der Bauer Manz. Beide sind sie vierzigjährig, sind verheiratet, haben jeweils ein Kind. Manz' Kind heißt Salomon, Sali genannt, ist ein siebenjähriger Junge. Marti hat eine Tochter namens Vrenchen, fünfjährig. Die Ausgangssituation der beiden Bauern ist also ähnlich, ja fast gleich. Beides sind auch angesehene, da fleißige und ordentliche Bauern. Vor dem Dorfe, unweit des Flusses, liegen drei Ackerstreifen nebeneinander. Manz und Marti haben jeweils einen der äußeren gepachtet. Der mittlere Acker liegt seit zwanzig Jahren brach, ist übersät von Unkraut und Steinen, die die Bauern von ihren Äckern auf den mittleren warfen. Wen der Unkrautacker gehört, weiß keiner so genau. Einst gehörte er einem Manne, der ihn aber verließ und in die Welt als Trompeter hinauszog. Dieser Trompeter starb, ohne rechtlich anerkannte Erben hinterlassen zu haben. Nur ein Geiger erhob Anspruch. Dieser hat zwar eindeutige Ähnlichkeiten mit dem Verstorbenen, besitzt aber keine Papiere und so kann er seine Ansprüche nicht belegen. Manz und Marti hatten auch kein Interesse daran, diesen Mann zu helfen. Die Stadt bot beiden den Acker zur Pacht an. Beide lehnten ab. Aber begierig auf den Acker waren sie schon. Daher stiebitzte jeder jedes Jahr sich eine Furche, sodass der Acker in der Mitte immer schmaler wurde. Eines Tages beschlossen die Amtsmänner von Seldwyla den mittleren, inzwischen unrechtmäßig geschrumpften Acker zu versteigern. Beide Bauern boten nun für das Reststück und überboten sich immer wieder. Den Zuschlag bekam letztlich Manz. Und da Marti sich zuletzt noch eine kleine Ecke vom mittleren Acker "genehmigt" hatte, kam es nun zum Zerwürfnis. Denn Manz, der durchaus den Furchenklau der Vorjahre akzeptierte, forderte diese kleine Ecke nun zurück. Marti weigerte sich. Sie zogen vor Gericht und prozessierten viele Jahre um dieses unbedeutende Stück, auf dem inzwischen alle Steine angehäuft waren. Martis Frau starb während dieser Zeit und Manz' Frau wurde ein Hausdrachen, der aber das Söhnchen Sali vorne bis hinten verwöhnte. - Durch den Streit wurden die Kinder natürlich voneinander ferngehalten und zum gegenseitigen Familienhass erzogen. Die Jahre gingen ins Land. Manz verlor sein Haus und allen Besitz und zog mit seiner Familie nach Seldwyla, um dort als Wirt sein Glück zu machen. Aber er scheiterte auch hier. Versank immer weiter, sodass er am Ende, um etwas zu Essen zu haben, Fische fangen ging mit seinem Sohn. Bei einem solchen Fischfanggang begegnete ihn plötzlich am gegenüberliegenden Ufer Marti mit seiner Tochter Vreni. Sali war inzwischen 19 Jahre alt und Vrenchen 17. Auch Marti war inzwischen so tief gesunken, dass er Fische fangen musste. Beide beschimpften sich über den Fluss hinweg. Auf einem Steg, der den Fluss überspannte, kam es dann zu einer Rauferei. Sali und Vrenchen waren auch involviert, aber sie trennten die beiden Raufbolde und ihre Hände berührten sich. Wie ein Blitz durchzuckte es die jungen Menschen, ihre Liebe zueinander entflammte neu. Aber: Welche Zukunft hat eine solche Liebe, wenn die Elternhäuser verfeindet sind? Sali ging Vrenchen nicht mehr aus dem Kopf und Vrenchen erging es andersherum genauso. Sali konnte nicht anders, er geht zu Vrenchen. Gemeinsam verbringen sie ein paar vergnügte Stunden auf den alten Acker. Dabei begegnet ihnen der Geiger, der den beiden seine Geschichte erzählt und ihnen Unglück vorhersagt. - Als Sali und Vrenchen wieder ins Dorf zurückkehren wollen, steht plötzlich Vrenchens Vater da. Es kommt zur Schlägerei zwischen Sali und Marti und Sali schlägt mit einem Stein auf Martis Kopf. Der verliert das Bewusstsein und als er wieder erwacht, ist er verblödet. Letztlich landet er in einer staatlichen Anstalt. Vrenchen muss nun auch vom Hof. - Sali, der zusammen mit Vrenchen das Geschehene als Geheimnis bewahrt, geht am Abend vor der Hausräumung zu Vrenchen. Gemeinsam wollen sie den letzten Tag verbringen. Sie wollen tanzen gehen. nd dabei begegnen sie wieder den Geiger. Der erkennt das Elend der beiden jungen Leute und bietet ihnen an, dass sie zulünftig gemeinsam mit ihm und seinen Freunden, herumstreichende Habenichtse beiderlei Geschlechts, die friedlich zusammenleben und sich helfen zu überleben, zu leben. Aber Sali und Vrenchen lehnen ab. Nein, so wollen sie nicht leben. - Aber sie erkennen auch, dass sie in der normalen Gesellschaft niemals gemeinsam friedlich miteinander leben können. Sie wählen den Tod, um gemeinsam zusammen zu sein. Eine sehr schöne, aber auch sehr tragische Geschichte. Gottfried Keller arbeitet hier ein altes Thema auf, dass zum Beispiel durch Shakespeares "Romeo und Julia" sehr bekannt war, schneidet es aber auf die Lebensumstände seiner Zeit zu und verlegt die Geschichte in die schweizer Alpenwelt. Der Autor ist ein herausragender Erzähler. Besonders plastisch schildert er die Details: Landschaften, Menschen, Situationen. Die Geschichte ensteht beim Lesen bildlich vor dem geistigen Auge des Lesers. Es ist, als wenn man direkt dabei ist und zusieht. - Diese Detaildarstellungen erfolgen zwar textlich sehr umfangreich, aber sie erscheinen dennoch nicht langatmig. Kein Wort scheint dabei zuviel. Einfach schön zu lesen. Poetisch realistisch. Keller ist ein herausragender Vertreter des Poetischen Realismus. Seine dichterischen Wurzeln liegen aber bereits im revolutionären Vormärz. Sehr beeindruckt war er von Feuerbach und befreundet mit Freiliggrath. Und sehr humanistisch sind auch seine späteren Novellen, wie "Romeo und Julia auf dem Dorfe", geprägt. Allerdings: Von den einst revolutionären Ansätzen blieben hier, nach der gescheiterten 1848er Revolution, nur wenige schemenhafte Züge. So ist der Geiger mit seinen Gefolgsleuten ja eher in einer Kommune organisiert, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgewandt hat und sich selber hilft zu überleben. Eigentlich die Zukunftsperspektive, wenn das marxsche Gedankengut dazukommen würde. Die Menschen dieser Gruppe sind gleichgestellt und helfen sich gegenseitig. Sie wissen: Überleben können sie nur als Gemeinschaft, wenn einer dem anderen dazu verhilft. - Keller sieht hier aber anscheinend nicht die Alternative, läßt Sali und Vrenchen lieber in den Tod gehen. Denn Keller hat auch sonst keine Alternative parat, wo die beiden glücklich werden könnten. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Wertesystem ist es nämlich offenbar auch nicht für den Dichter. Es ist eine Art Hilflosigkeit zu spüren, die ich in der Hilflosigkeit des Dichters nach der gescheiterten Revolution vermute. Es gilt hier anscheinend nur: bürgerliche Gesellschaft oder Tod. Am Schluss wird zwar dann kurz aufgeführt, wie die Gesellschaft allgemein den gemeinsamen Freitod hinnahm, aber es bleibt absolut offen, wie Salis Eltern den Tod aufnahmen, was sie daraus lernten. Hier wird, meiner Auffassung nach, ein entscheidender Teil übergangen, denn Manz ist ja einer der Urheber des tragischen Geschehens. Es würden sich ja verschiedene Möglichkeiten anbieten, wie es da weitergehen könnte, z.B.: Manz erkennt, was er für Unheil mitangerichtet hat und kümmert sich fortan um Marti, der ja immer noch in der staatlichen Anstalt sein Leben fristet. Oder: Er sorgt zumindest für ein gemeinsames Grab, damit die Liebenden im Tod wenigstens symbolisch vereint bleiben. Oder: ... - Es gäbe noch manche Möglichkeit. Positive und negative. Hier finde ich die Novelle unvollständig, nicht zu Ende gedacht. Aber dennoch ist es eine sehr lesenswerte und empfehlenswerte Geschichte.
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