Cover des Buches Spiegel, das Kätzchen (ISBN: 9783762118053)
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Rezension zu Spiegel, das Kätzchen von Gottfried Keller

Rezension zu "Spiegel, das Kätzchen" von Gottfried Keller

von rumble-bee vor 14 Jahren

Rezension

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rumble-beevor 14 Jahren
Es gab mehrere Gründe, warum ich diese Novelle gelesen habe. Erstens, ich war verschnupft und hatte keine Lust auf einen langen Roman. Zweitens, ich hatte gerade eine Anthologie mit klassischen deutschen Erzählungen griffbereit. Und, drittens, was gerade bei dieser Novelle eine nicht unerhebliche Rolle spielt, ich wusste, dass sie als literarische Vorlage gedient hat für "Der Schrecksenmeister" von WalterMoers. Und da ich mir den "Schrecksenmeister" immer noch als Geschenk wünsche (Freunde und Verwandte aufgepasst!), wollte ich unbedingt vorher wissen, worauf sich Moers eigentlich bezieht. Zunächst einmal: auch als Novelle "an und für sich" ist dieses Stück deutscher Literatur lesenswert! Es ist eigentlich eher ein Märchen, ein Märchen für Erwachsene. Eine kleine verwaiste Katze wird von einem Hexenmeister aufgenommen, und zwar unter der Bedingung, er wolle sie füttern, bis sie fett sei, und sie überlässt ihm im Gegenzug dafür ihr Fett für einen Zaubertrank. Man kennt die Lage aus diversen deutschen Märchen, nicht unähnlich "Hänsel und Gretel", wo ja auch jemand gemästet werden soll, oder auch vergleichbar mit Motiven aus dem "Rumpelstilzchen", dem "Schlaraffenland" oder dem "Räuber Hotzenplotz" - immerzu geht es in der deutschen Literatur um Schauer-Elemente, einen bösen Zauberer, der die Einhaltung eines perfiden Kontrakts fordert, und der vorgibt, für das Wohl des Helden zu sorgen. Gottfried Keller hat sich aber interessante Abweichungen von diesem Muster einfallen lassen. Erstens einmal ist der "Held" eine Katze, genannt Spiegel, die mit einer guten Portion Intelligenz ausgerüstet ist. Die Geschichte wird halb aus ihrer, halb aus der Autoren-Perspektive erzählt. Zweitens hat er, wenngleich auch unterschwellig, stark gesellschaftskritische Momente einfließen lassen. An der Katze sieht man beispielsweise sehr schön, dass "erst das Fressen, dann die Moral" kommt. zweitens, der Zauberer! Hier muss man schon sehr genau hinlesen, aber er verkörpert für mich einen Typus, den es auch heute noch gibt: nur zu gerne sind wir Menschen ja bereit, einer Person alle unangenehmen Aufgaben, wie unser heil und unsere Unterhaltung, zuzuschreiben, und dieser Person dafür dann Pöstchen und gesellschaftlichen Rang zu verleihen. Und auch die Beschreibung seines Hangs, immer einen "unrechtlichen" Haken auch an seine "rechtmäßigen" Aktivitäten zu knüpfen, das hat mich sehr schmunzeln lassen! Kommt mir auch heute noch sehr bekannt vor! ja, und schließlich diese verknöcherte alte Jungfer, die heimliche Hexe, die "Begine" (weiß jemand, was dieses altertümliche Wort eigentlich heißt??). Das strotzte nun nur so vor kritischen Seitenhieben! Nach vorne hin streng und weiß, gestärkte Schürze und ernste Miene. nach hinten heraus aber, oh weh, da ist ihr Haus dunkel, düster, verdreckt und geheimnisvoll. Eine perfekte, und sehr böse Beschreibung gesellschaftlicher Bigotterie! Der Schreibstil an sich ist, trotz der teils altertümlichen Ausdrücke, auch heute noch gut zu lesen. Das liegt zum Beispiel daran, dass der Autor eine gute Balance hält zwischen Beschreibungen, inneren Gedankengängen und spritzigen Dialogen. Ganz zu schweigen natürlich von der letztendlichen Moral, die vermittelt wird: hier siegt einmal der vermeintlich Schwache, und zwar dadurch, dass er einen heimlichen "wunden Punkt", eine heimliche Gier des vermeintlich Stärkeren provoziert und dann ausnutzt. Es hat mir insgesamt wirklich gut gefallen, weil ich bei Keller fühle, dass er auf ganz grundlegende Tendenzen im menschlichen Charakter anspielt. Aber auf die Parallelen zu Walter Moers MUSS ich einfach noch eingehen! ich bin wirklich sehr froh, diese Novelle ZUERST gelesen zu haben. Von der Handlung her, vom handlungsgerüst, hat sich Moers wirklich nahezu alles übernommen, wie es scheint. Aber er wäre nicht Walter Moers, hätte er nicht die Charaktere dabei gründlich verulkt. Sehen wir uns ein paar offensichtliche Dinge an. Bei Keller heißt die Katze "Spiegel", bei Moers "Echo" (aha!), der Zauberer heißt bei Keller "Pineiß", bei Moers "Eißpin" (oho!), die Stadt, in der das ganze spielt, heißt bei Keller "Seldwyla", bei Moers "Sledwaya" (hihi!), und nicht zuletzt der Titel des Bösewichtes, bei Keller "Hexenmeister", bei Moers "Schrecksenmeister" (huhu!). Natürlich kann ich zum Ende des Buches von Moers noch nichts sagen, mich würde es aber nicht wundern, hätte er auch hier eine kreative Abweichung gefunden. In diesem Sinne, finde ich, ist diese Novelle von Gottfried Keller gleich für zwei Arten von lesern geeignet: erstens für Liebhaber klassischer deutscher Texte, denn in dieser Hinsicht ist sie ein wahres Meisterstück. Zweitens für alle Fans von Walter Moers, auch und gerade diejenigen, die mit dem "Schrecksenmeister" ein wenig unglücklich waren. Denn im Vergleich zur "wahren" Vorlage werden sie feststellen, dass Moers auch hier wie gewohnt kreativ und waghalsig gewesen ist!
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