Cover des Buches Lügenland (ISBN: 9783865325501)
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Rezension zu Lügenland von Gudrun Lerchbaum

Inafizierung: Lügenland - Gudrun Lerchbaum

von DunklesSchaf vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Eine erschreckend wahrscheinliche Version der Zukunft - ich sag nur: Demokratur... Unbedingt lesen!

Rezension

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DunklesSchafvor 8 Jahren

Erschreckend, beklemmend, düster.
Zurzeit befinde ich mich in der Stimmung, um des Öfteren einen Blick in die Zukunft zu wagen. Technologische Neuerungen, politische Veränderungen, ökologische Einflüsse – egal, welches Buch man hier heranzieht, die Zukunft ist dunkel. Zappenduster um genau zu sein. Und das Schlimme daran ist, wir reden hier nicht von weit entfernten Zukunftsszenarien mit Aliens oder Robotern oder von einer weit, weit entfernten Zukunft. Nein, es geht um Blicke in eine nahe Zukunft. Blicke, die noch unsere jetzige Gegenwart im Gepäck haben und uns aufzeigen, wie die Welt sich entwickeln könnte, wenn wir Gedanken, Strömungen und Ideen, die hier und jetzt bestehen, weiter verfolgen. Und genau so verhält es sich auch mit Gudrun Lerchbaums Politthriller “Lügenland”. Es ist ein sehr naher Blick in die Zukunft, den man sich erschreckend gut vorstellen kann.

Mattea Inninger, vor kurzem noch Soldatin, feiert mit zwei Freundinnen ihren letzten Abend in Freiheit, bevor sie in eine arrangierte Ehe schlittert, als sie bei einem Vorfall ihre Freundin erschießt. Von der anderen Freundin verraten, muss sie fliehen. Im rechtspopulistischen Österreich, welches eine vollständige Überwachung über seine Bewohner installiert hat, keine einfache Sache. Sie wird eine „Wertlose“, jemand, der kein elektronisches Armband mit Ausweis, Geld und Telefon mehr besitzt, jemand der wertlos für den Staat ist. (Un)Glücklicherweise sieht Mattea auch noch der im ganzen Land gesuchten Terroristin Ina Matusek sehr ähnlich, so dass sich ihre Flucht um einiges erschwert – aber auch erleichtert. Sie taucht bei den Revolutionären unter – als Ina Matusek.

Ob kunstverseucht, ob bipolar, ob süchtig oder unfruchtbar – die rechte Waffe in der Hand macht euch zum Teil der Heldenschar!“ (S. 11)

Europa ist zerbrochen, Österreich hat seine Grenzen mit einer Mauer abgeschottet. Jegliche Nicht-Österreicher wurden vertrieben, jeder trägt ein Armband und ist damit jederzeit auffindbar. Der Präsident ist überall sichtbar, als Hologramm oder in den Gedanken der Menschen. Dieses Österreich hat es geschafft, die Propaganda von Hitler nochmal zu toppen und diese Sprüche in den Gehirnen ihrer Bewohner zu installieren und zu automatisieren. „Es heißt Demokratur und nicht Diktatur […] und sie hat uns den Arsch gerettet, knapp vor dem Untergang des Abendlandes“ (S. 105) Man darf nicht unterschätzen, dass das Leben in einer Diktatur, ehm, Verzeihung, natürlich Demokratur Sicherheit und Schutz verspricht und Kontrolle gewährt. Natürlich ist das nur der schöne Schein, doch das Leben in Österreich ist für deren Bewohner normal, man hält sich an die Regeln, bestätigt mit einem Spruch und dient dem Vaterland. So wie Mattea: erst als Soldatin, nun als gute Ehefrau, bald als Mutter.

Was mich oft an Protagonisten von Zukunftsromanen stört, ist, dass sie relativ schnell und konsequent gegen das System aufbegehren, auch wenn sie es vorher akzeptiert haben, denn dies lässt sie unglaubwürdig und wankelmütig erscheinen. In Mattea begegnet man zuerst der getreuen Soldatin, die für ihr Vaterland kämpft und die Propaganda im Schlaf beherrscht, die den Kanzler und die Demokratur mit harschen Worten verteidigt. Doch ihre ungewollte Flucht und ihr Unterschlupf bei den Revolutionären zeigt ihr die Schattenseiten der gut funktionierenden Maschinerie und das Umdenken beginnt. Langsam und mit vielen Rückschlägen – sogar noch sehr spät im Buch fragt sie sich, ob sie die Revolutionäre nicht lieber verraten soll und in den Schoss des Landes zurückkehren soll. Ihre Gedanken fechten Grundsatzdiskussionen aus und es fällt ihr schwer, die Wahrheiten, die sie erfährt, zu verarbeiten oder die Leichtigkeit, mit der die Revolutionäre nicht ansprechbare Themen diskutieren, zu verkraften. Dieser Kampf, die jahrelange Indoktrination zu durchbrechen, untermauert ihre Zwiespältigkeit und wirkt unglaublich realistisch. Es steht quasi immer auf der Kippe, so dass man nie weiß, wie Mattea in einer Situation entscheidet. Noch glaubwürdiger wird sie für mich durch die Tatsache, dass sie ihre Freundin erschießt. So unglaublich dies klingt, aber es macht sie menschlicher, es verleiht ihr Tiefe und macht sie somit zu einem Menschen, der eben nicht nur gut oder böse ist, sondern viele Seiten hat. Man mag sie dafür vielleicht nicht unbedingt mögen, aber man respektiert sie, man glaubt ihr.

Das Rahmen ist beklemmend, die Protagonistin unglaublich realistisch und der Sprachstil? Sehr eindringlich und das nicht nur, weil die Autorin ihr Buch mit Propaganda-Sprüchen gepfeffert hat, sondern weil es einen zwingt, gemeinsam mit Mattea darüber nachzudenken. Nachzudenken, wie eine Zukunft aussieht, die von den Rechten bestimmt wird, die einem die Kontrolle über das eigene Leben nur vorgaukelt, die Errungenschaften der Globalisierung verpuffen lässt. Keiner will in Schubladen gestopft werden und trotzdem etikettieren wir jeden Menschen und ordnen ihn in Kategorien: Mann, Frau, weiß, schwarz, deutsch, chinesisch…. Solange wir hier nicht dazu gelernt haben, ist es unbedingt notwendig, dass es Autoren wie Gudrun Lerchbaum gibt, die uns vor Augen führen, wohin unsere Engstirnigkeit uns führen kann. Lernen wir was draus. Machen wir es anders, vielleicht besser, aber auf jeden Fall anders. Und zwar jetzt, nicht erst in der Zukunft.

„Die Geschichte hat vielfach bewiesen, dass Mauern keine langfristigen Lösungen sind. Jede Mauer wurde irgendwann überrannt oder niedergerissen, meist nach wenigen Jahren oder Jahrzehnten, manchmal erst nach Jahrhunderten. Grenzen, Nationen, Rassen, das sind überholte Kategorien in einer Welt, die man innerhalb von zwei Tagen umrunden kann.“ (S. 281)

Fazit:
Auch wenn es erst September ist – „Lügenland“ wandert schon mal unverrückbar in meine Top 5 für 2016. Das Buch ist nicht nur ein beklemmender Blick in die Zukunft, sondern auch die Protagonistin war ganz nach meinem Gusto. Unbedingt zugreifen, lesen und darüber nachdenken. Absolute Leseempfehlung!

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