„(…) für mich ist diese Frau nicht einfach ein Körper, der die Waffen streckt, sie ist ein geliebter Mensch, ein kostbares Leben, das still endet.“ (S.11)
Anna liegt im Sterben. Brustkrebs im Endstadium. Jede weitere Chemotherapie lehnt sie ab. 1953 in Kamerun geboren, erinnert sie sich auf der Palliativstation in einem Pariser Krankenhaus an ihr bewegtes Leben: an das Aufwachsen bei einer mittellosen Bäuerin, die zu ihrer Adoptivmutter wird; an den Besuch einer streng katholischen Mädchenschule sowie eines Internats, in der/dem sie von den Kindern der aufstrebenden „Bildungselite“ ausgegrenzt wird; an die konfliktbeladene Ehe mit Louis, der einst die Unabhängigkeitsbewegung unterstützte, schließlich politisch aufsteigt, Teil der korrupten Regierung wird und Anna betrügt. In ihrer Familie ist Anna die letzte lebende Zeitzeugin, die nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch die eines Landes erzählen kann.
Im Krankenhaus steht Anna ihre Tochter Abi beiseite. Erst durch Annas nahenden Tod nähern sich Mutter und Tochter an. Abi verließ Kamerun bereits als junge Frau, studierte in Frankreich und lernte Julien kennen, mit dem sie einen gemeinsamen Sohn – Max – hat. Im Vergleich zur Mutter führt Abi, die als Kulturjournalistin arbeitet, ein privilegiertes Leben. Doch sie ist nicht glücklich, beginnt eine Affäre und wird von Julien verlassen. Teenager Max leidet unter der Trennung seiner Eltern, verschlechtert sich in der Schule, konsumiert Drogen, rebelliert und wird schließlich nach Kamerun zu seiner Großmutter geschickt, um die Schule zu beenden.
In Kamerun lernen wir die Freunde von Max kennen: Ismael, Jenny und Tina. Letztgenannte ist die dritte Erzählerin in „Die Tage kommen und gehen“. Sie berichtet von der Radikalisierung der Jugendlichen und dem Übertritt zur islamischen Terrororganisation Boko Haram; von jungen Menschen, die zu lebenden Bomben werden…
Bereits durch diese grobe Inhaltsangabe wird ersichtlich, dass der 368 Seiten umfassende Roman von Hemley Boum inhaltlich recht komplex, episch und dicht ist. Drei Erzähler*innen aus drei Generationen, die nicht nur ihre persönlichen Schicksale in den Fokus stellen, sondern darin auch die (teils diasporischen) Schicksale von Verwandten, Freunden und jenes eines ganzen Landes verweben. Dies mag manche Leser*innen ermüden, ist hinsichtlich der Passagen zur Islamischen Terrororganisation nicht immer leicht auszuhalten - der Einblick in wichtige gesellschaftliche, politische und historische Ereignisse ist jedoch äußerst lehrreich. Und besonders gut gefallen hat mir, dass Boum, die für diesen Roman 2020 mit dem Ahmadou-Kourouma-Preis ausgezeichnet wurde, den Frauen eine Stimme gibt. Frauen, die sich aus den starren patriarchalischen Strukturen zu emanzipieren versuch(t)en und ihren eigenen Weg in die Unabhängigkeit anstreb(t)en. Von mir: eine klare Leseempfehlung. Übersetzt aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke.