Cover des Buches Der letzte Zar (ISBN: 9783406713675)
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Rezension zu Der letzte Zar von György Dalos

Kann man vergessen.

von Wedma vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Peinliche Sachfehler, zynische Pietätslosigkeit, herablassende Attitüde, anti-rus. Stimmung insg. Die Welt hat das Pamphlet nicht gebraucht.

Rezension

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Wedmavor 7 Jahren

Ich bin mit großer Vorfreude an dieses Werk rangegangen, da ich die Sachbücher aus dem Hause C. H. Beck sehr schätze. Sie haben mir oft viel Lesevergnügen bereitet und eine Menge Spannendes und Wissenswertes berichtet. Über jede Neuerscheinung freue ich mich sehr.

Dieses Buch erwies sich leider als die erste Ausnahme. Auch weil es deutlich hinter meinen Erwartungen geblieben ist, was Qualität solcher Werke anbelangt. Spätestens ab der Hälfte beschlich mich die im Klappentext versprochene Beklemmung, aber aus einem ganz anderen Grunde: Dieser nachlässige Umgang mit Daten, Fakten und Quellen, peinliche Sachfehler, die geringschätzige, von oben herab Attitüde gegenüber den beiden letzten russischen Herrschern, ihrem Hof und anderen Akteuren der rus. Geschichte insg., sowie der deutlich durchschimmernde Zynismus mit dem Hang zum Pietätlosen zum Schluss hinterließen bei mir, milde gesagt, keinen positiven Eindruck.

Gleich am Anfang ließ mich folgende Darstellung stutzen: „Nikolaj II. erklomm nun den Thron einer Dynastie, die im Zeitraum ihrer Herrschaft seit 1613 dem Russischen Reich die unterschiedlichsten Zaren beschert hatte: den westlich orientierten Reformer Peter I., die aufgeklärte, mit Voltaire korrespondierende Monarchin Katharina II., dann Alexander I., der Bezwinger Napoleons, der durch die Heilige Allianz die europäische Politik mitbestimmte. Schließlich folgten der Erzreaktionär Nikolaj I., sowie einige kurzlebige Übergangsherrscher, darunter Peter II., und Paul I., die von großfürstlichen Rivalen entmachtet bzw. ermordet wurden.“ S. 19. Der letzte Satz stimmt nicht. Peter II. und Paul I. folgten keineswegs. Sie waren Vorfahren vom Nikolaus I., der in den Jahren von 1825-1855 regierte. Das steht klar in jedem Werk zum Thema mit einer Zeittafel, bzw. Stammbaumdiagramm der Romanows, die in diesem Buch übrigens komplett fehlen. Peter II. war Enkel vom Peter I. und regierte von 1727 bis 1730. Paul I. war der unbeliebte Sohn von Katharina II. Sehr gut beschrieben in der Biographie „Maria, Kaiserin von Russland: Die Württembergerin auf dem Zarenthron“ von Marianna Butenschön. Paul I. regierte 1796-1801. Vom Folgen kann also keine Rede sein. Hier dachte ich noch, gut, es ist vllt unglücklich formuliert, aber was dann für peinliche Sachfehler kamen, da mochte ich meinen Augen nicht glauben. S. 114: „Diese Post zirkulierte zwischen den Kinderzimmern im Erdgeschoss und dem Wohnraum der Mutter im ersten Stock des Schlosses in Zarskoje Selo. So schreibt die Älteste, die sechzehnjährige Tatjana, im Januar 1909… Die zwei Jahre jüngere Olga beschwerte sich ebenfalls über die Abwesenheit der Mutter…“ Zwei Fehler hier: Die älteste Tochter, das erste Kind von Alix und Nikolaus II., war Olga. Sie wurde 1895 geboren. In 1897 kam Tatjana. (Quellen hier: E. Almendingen „Die Romanows“, C. Erickson „Alexandra Romanowa“, uvm.) Somit kann Tatjana keine 16 Jahre im Januar 1909 gewesen sein und die Älteste schon gar nicht. Der Witz ist: Paar Seiten später wird Olga als die älteste Tochter bezeichnet, s. S. 132, Mitte.

Wohlwollend dachte ich noch: Gut, der Autor hat’s mit dem Familiären nicht so, was aber schon recht peinlich ist, da leicht nachzuprüfen, was die Pflicht und Professionalität hätten eigentlich mit sich bringen sollen. Aber weitere Ausrutscher wie bloße Unterstellungen, da die Quellen fehlen, Ungenauigkeiten und dergleichen ließen mein Lesevergnügen in Keller sinken. Z.B. S. 117. Hier wurde Rasputin als Mönch bezeichnet. Falsch. Rasputin hatte von jungen Jahren an eine Familie und Kinder in seinem Heimatort Pokrowskoje, nahe Tobolsk in Westsibirien. Er hat nie eine klassische Mönch-Karriere wie etwa Iliodor, sein einstiger Freund und später arger Feind, angestrebt. Im gleichen Atemzug wurde der Begriff „Starez“ gebraucht, der nirgends erklärt wurde. Wenn man das Wort zum ersten Mal sieht, muss man um seine Bedeutung raten, um verstehen zu können, warum Rasputin nun als Starez bezeichnet wurde.

Insg. was zu Rasputin und Anna Wyrubowa, der Zofe und Vertrauten der Zarin, gesagt wurde, ähnelt schon stark einer bösen Posse. Ganz grob kommt es hin, aber der Teufel steckt im Detail. Natürlich durfte hier bei der Charakterisierung Rasputins sein auch woanders viel zitiertes Auftreten im Restaurant „Jar“ im Jahr 1915 nicht fehlen. Englischer Historiker Douglas Smith aber, in seiner wohl recherchierten Rasputin Biographie „Und die Erde wird zittern“ (2017) schreibt, dass die „Jar“-Geschichte schlicht erfunden und ein Teil der Verleumdungskampagne war, die Rasputin, sowie Zarenhof insg., in diesen Jahren plagte. Dalos übernahm schlicht das äußerst Negative zu Rasputin aus anderen, weniger gut recherchierten Quellen.

Auf S. 117 wurden die Tagebucheinträge von Nikolaus II. erwähnt, der über die Treffen mit Rasputin berichten. Die genauen Quellenangaben fehlen wieder mal.

Manche vom Autor aufgestellten Parallelen zu späteren Ereignissen in rus. Geschichte sind schlicht fehl am Platz und entbehren ebenso Wahrheitsgehalt und sind entweder auf dürftige Recherchen zurückzuführen, oder auch auf den Wunsch, Persönlichkeiten der rus. Geschichte und Politik negativ in der Öffentlichkeit darzustellen. So assoziiert Dalos die Tragödie von Chodynka zur Krönung von Nikolaus II., 1896, i.e. die Unschlüssigkeit des Zaren, die Feierlichkeiten angesichts der vielen Todesopfer abzusagen mit der Unschlüssigkeit Gorbachews im Jahr 1986, die 1. Mai Feier nach der Tschernobyl Tragödie fallen zu lassen, sowie den angeblichen Unwillen des heutigen rus. Präsidenten, seinen Urlaub in 2000 zu unterbrechen, nachdem der U-Boot „Kursk“ samt Mannschaft verunglückt war, s. S. 212. Zum Letzteren nimmt der rus. Präsident die Stellung in „Putin: Innenansichten der Macht“ (2015) von Hubert Seipel: Von „Kursk“-Tragödie wurde er von seinen Leuten nicht rechtzeitig informiert. Sobald er aber davon erfuhr, war er vor Ort.

An anderer Stelle liest man „Alix, Anja und Grigorij ähnelten den assoziierten Mitgliedern einer GmbH, ohne deren Tätigkeit formal bestimmen zu können.“ S. 163. Von welcher GmbH kann hier bitte die Rede sein? Es ist eine ganz andere Epoche, ganz andere Verhältnisse.

An einigen Stellen wurde Dalos wage, z.B. was Alexejs Hämophilie-Anfälle und Rasputins Rolle in deren Bekämpfung angeht. Hierzu gibt es gute Beschreibungen von Carolly Erickson in Alix‘ Biographie „Alexandra Romanowa“ oder auch von D. Smith in Rasputins Biographie.

Was Rasputins Rolle bei dem Schiffsunglück mit dem Lord Kirchener an Bord 1916 angeht, schreibt D. Smith auch etwas anderes, und gerade seine Sicht der Dinge erscheint mir glaubhafter, schon allein weil er ganz anders an den Stoff herangeht, seine Quellenangaben sehen auch sehr solide aus.

Negative Darstellungen der Russen insg. musste der Autor unbedingt noch reinbringen. Als Quelle soll hier ein namenloser Informant des franz. Diplomaten dienen, s. S. 161, was auch herzlich wenig zu der Glaubwürdigkeit solcher Ausführungen beiträgt. Die Frage ist: Was möchte der werte Autor mit solchen Darstellungen erreichen? Wenn er seine Russophobie zur Schau stellen wollte, so ist es ihm zweifelsohne gelungen.

Des Öfteren lässt der Autor die historischen Persönlichkeiten in Dialogen ihre Standpunkte erläutern. Grundsätzlich fehlen dabei die Quellen, z.B. S. 168 und viele andere. Welchen Dokumenten wurde diese Darstellung bitte entnommen? Was gerechtfertigt diese Interpretation? Die Antwort bleibt offen. Man kann nur rätseln, woher dies kommen kann.

Hinten im Buch gibt es Literatur, bestehend aus gerade mal 20 Titeln. In respektablen Werken erstrecken sich Literaturhinweise über dutzende von Seiten. Hier nicht. Folgende Anmerkung des Autors illustriert seinen lässigen Umgang mit Quellen sehr treffend: „Ich habe zahlreiche Quellen aus dem Internet verwendet.“ In jeder Klassenarbeit wird so etwas vom Lehrer abqualifiziert und als unzulässig erklärt. Hier nicht.

Das gleiche gilt für Bildnachweise: kryptische Angaben, die gar nicht weiterhelfen können, wenn man wissen will, wo, in welchen Jahr die Fotos aufgenommen wurden, in welchen hist. Quellen sind die Originale zu finden, etc. Da steht einfach: Sämtliche Abbildungen: so und so Images, Berlin.

Da musste ich mich unwillkürlich fragen: Was denkt bitte der werte Autor von seinen Lesern? Dass so ein Umgang mit Quellen überhaupt als annehmbar erachtet wurde, erzählt Bände über seine Professionalität und untergräbt die Reste seiner Glaubwürdigkeit.

Ja, es gibt paar gelungene Erläuterungen zu den Hintergründen der europäischen Politik der damaligen Zeit, z.B. das Verhältnis zw. Wilhelm II. und Nikolaus II. und wie es zur Beteiligung Russlands im Krieg von 1914 kam, oder auch zur Rolle von Queen Victoria. Dabei sieht man, dass Politik eher die starke Seite des Autors ist. Der Rest lässt vieles zu wünschen übrig.

Die Struktur hat bei mir auch keine Jubelrufe hervorbringen können. Erst habe ich angenommen, es wäre Nikolaus‘ Biographie, aber nein. Es ist eine Ansammlung von Aufsätzen von etwa 20 Seiten zu den in den Überschriften genannten Themen wie „Krieg mit Japan“, „Allein mit der Revolution“, „Der Zar in der Julikrise“ usw., in zehn Kapitel geordnet. Klar schildert das Ganze den Untergang der Romanows, wie der Untertitel verspricht, aber die Art und Weise stürzte mich in tiefe Verzweiflung.

Zum Schluss wurde der Ton herablassender und insg. einfach grässlich und pietätslos, s. z.B. S. 200.

Fazit: Dieses Pamphlet hat die Welt nicht gebraucht. Allein die von oben herab Attitüde gegenüber den historischen Persönlichkeiten, ob es um Nikolaus, Alix, Rasputin oder anderen geht, wie auch zum erzählten Stoff insg., hat mein Lesevergnügen gleich Null gesetzt. Hinzu kommen die peinlichen Sachfehler, zu lässiger Umgang mit Quellen, wie auch Zitate und Übersetzungen des nicht nachvollziehbaren Ursprungs, sowie die anti-russische Grundstimmung insg. uvm. Zwei Sterne mit viel Wohlwollen erscheinen mir hier realistisch.

Wer mehr zu der Zarenfamilie, Rasputin oder zu der Zeit um Oktoberrevolution 1917 erfahren möchte, der lese die o.g. Bücher von C. Erickson, D. Smith, E. Almedingen oder auch O. Figes „Die Tragödie eines Volkes“.

G. Dalos‘ Werk kann man vor diesem Hintergrund und auch insg. getrost vergessen.

Verrisse schreibe ich äußerst ungerne, aber manchmal, wie in diesem konkreten Fall, muss es einfach sein.

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