Cover des Buches Elf Tage in Berlin (ISBN: 9783442754939)
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Rezension zu Elf Tage in Berlin von Hakan Nesser

Einfacher ein Baum

von schmives vor 8 Jahren

Rezension

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schmivesvor 8 Jahren

Die schwedische Literatur ist berüchtigt für ihre Kriminalromane, in denen schwermütige bis soziopathische Kommissare mit mindestens latentem Alkoholproblem sich mit bestialischen Mordfällen auseinandersetzen. Dass das natürlich nicht alles ist, was die Skandinavier zu bieten haben, und sich sogar ein einschlägiger Genre-Vertreter mitunter einen vielversprechenden Abstecher in andere literarische Gefilde erlaubt, beweist z.B. Håkan Nesser mit seinem neuen Roman.

Zwar sind auch in Elf Tage in Berlin mehrere Tote zu beklagen, und eine männliche Hauptfigur begibt sich auf Spurensuche in der Fremde, sodass sich zumindest in Ansätzen ein kriminalistisches Grundschema nachweisen lässt. Dieses Schema wird hier jedoch auf so originelle Weise variiert, dass man dem klassischen Krimiliebhaber vielleicht von der Lektüre abraten muss. Alle Menschen mit flexibleren Lesegewohnheiten wird die Geschichte von Arne Murberg aus K. in Schweden, der sich in Berlin auf die Suche nach seiner Mutter begibt, die seinen Vater und ihn rund ein Jahr nach seiner Geburt gut 30 Jahre zuvor im Stich gelassen hat, aber sicherlich in ihren Bann ziehen. Mag man sich anfangs noch an der befremdlich einfachen Sprache stoßen, klärt sich dann doch schnell auf, dass es sich dabei keineswegs um einen schwachen Stil handelt sondern vielmehr um narratives Programm: Arne hat nämlich als Kind eine Kopfverletzung erlitten und ist seitdem kognitiv eingeschränkt, die Simplizität der Sprache ist ein veritables Abbild seiner reduzierten Weltwahrnehmung. Und dieser Simplicissimus erhält nun von seinem Vater auf dem Sterbebett einen Auftrag von geradezu existenzieller Tragweite: Begib dich nach Berlin und finde deine abtrünnige Mutter, um ihr dieses Kästchen von mir zu übergeben, das du selbst vorher nicht öffnen darfst. Auf diese abenteuerliche Reise darf der Leser Arne begleiten und erlebt aus dessen kindlich ungefilterter Perspektive viele Dinge wieder wie zum ersten Mal, z.B. das Einchecken im Hotel oder einen Schuhekauf im Kaufhaus, aber auch bestimmte Redensarten als eigentlich merkwürdige Spracherscheinungen – so werden gleichsam mit den Augen eines Kindes Dinge sichtbar gemacht, die entweder gar nicht mehr oder auf jeden Fall nicht auf solche Weise in das Bewusstsein des „gesunden“ Erwachsenen eindringen würden.

Wir haben hier also neben einem Kriminal- und Abenteuerroman gleichzeitig auch einen Bildungsroman über einen Menschen mit geistiger Behinderung vor uns, der in der Fremde zum ersten Mal auf sich allein gestellt sich zunehmend von der Bevormundung durch seine Verwandten emanzipiert und sich als autonom behauptet. Pikant abgeschmeckt wird diese Melange schließlich noch durch einen guten Schuss Fantastik bzw. durchaus Schwarze Romantik, denn mit dem verschrobenen Professor Litvinas begegnet obendrein eine Figur, die den alchemistischen Sphären E.T.A. Hoffmanns entsprungen zu sein scheint. Mehr soll hier gar nicht verraten werden, um der in der Erzählung wirkmächtig entfalteten Spannung keinen Abbruch zu tun.

„Es ist bestimmt einfacher, ein Baum zu sein als ein Mensch“, resümiert Arne gegen Ende der Geschichte. „Einfacher, aber gleichzeitig auch langweiliger.“ Der Protagonist in Nessers Roman ist zu diesem Zeitpunkt jedenfalls um zahlreiche – darunter übrigens romantische – Erfahrungen reicher geworden, und auch der Leser fühlt sich bis zum Ende beschenkt. Eine vielseitige und kurzweilige Lektüre, die unbedingt zu empfehlen ist.

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