Cover des Buches Die Vegetarierin (ISBN: 9783351036539)
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Rezension zu Die Vegetarierin von Han Kang

Ein Baum, der durch Beharrlichkeit Mauern einreißt

von complitse vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Ein absolut überzeugender Roman, psychologisch interessant, sprachlich gut gestaltet, mit sehr durchdachten Metaphern.

Rezension

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complitsevor 7 Jahren
Der mit dem Man Booker International Prize 2016 ausgezeichnete Roman Die Vegetarierin der südkoreanischen Autorin Han Kangbeschreibt die Metamorphose einer Frau zur Pflanze. Oder steckt dahinter noch etwas ganz anderes?

Chongs Frau verweigert sich

Der erste Teil des dreigliedrigen Romans ist aus der Ich-Perspektive des Ehemanns der Protagonistin geschrieben und berichtet über deren plötzliche heftige Ablehnung aller tierischen Lebensmittel. Yong-Hyes Ehemann ist ein bemerkenswert egoistischer Mensch. Er hat sich nicht aus Liebe für sie entschieden, sondern weil sie so unauffällig und durchschnittlich war, dass er sich nicht für sie anstrengen musste; weil sie eine gute Köchin war und sich ohne zu klagen um den Haushalt kümmerte; weil sie nicht von ihm erwartete, dass er etwas mit ihr unternahm oder sich auch nur für sie interessierte. Als sie nach einem blutigen Alptraum alle tierischen Lebensmittel aus dem Haus verbannt, zeigt er keinerlei Anteilnahme, sondern wirft ihr Egoismus vor:

Wie konnte sie nur so auf sich fixiert sein? Ich musterte sie eindringlich. Sie sah mich nicht an, wirkte aber ausgeglichen wie nie zuvor. Ich begriff nicht, dass die ganze Zeit ein solcher Egoismus und eine solche Rücksichtslosigkeit in ihr geschlummert haben sollten. Sie konnte doch nicht plötzlich so unvernünftig sein. [S. 16/189]

Yong-Hyes Eltern unterstützen ihn in diesem Vorwurf. Der cholerische Vater, der Yong-Hye als Kind oft geschlagen hat, versucht, sie zum Fleischessen zu zwingen, woraufhin sie sich vor aller Augen die Pulsadern aufschneidet. Der Schwager reagiert als einziger prompt, macht einen Druckverband und bringt sie ins Krankenhaus.

Yong-Hyes Schwager blüht auf

Nachdem Yong-Hye aus dem Krankenhaus entlassen wird, verlässt sie ihr Mann und sie kommt für einige Zeit bei ihrer Schwester In-Hye unter. Doch erst nachdem sie längst wieder ausgezogen ist, beginnt sich ihr Schwager für sie zu interessieren, als er zufällig erfährt, dass sie ihren Mongolenfleck noch hat. Im asiatischen Raum ist es weit verbreitet, dass Babys einen grünlichen Pigmentfleck am Gesäß haben, der im Laufe der frühen Kindheit verblasst und schließlich verschwindet. Nicht so bei Yong-Hye: Ihr Mongolenfleck wird für ihren Schwager zum Fetisch. Er steigert sich in eine Fantasie, die ihm auch als dringend benötigte Inspiration für seine seit Jahren stagnierende Videokunst dient. Er bemalt die nackte Yong-Hye mit Blumen, es erfüllt sie mit neuem Leben – sie teilt seinen Fetisch auf ihre Art. Selbstverständlich bleibt es nicht bei dieser einen Bemalung. Das Projekt entwickelt sich fort, hinein in einen Grenzbereich zwischen Kunst, Pornographie und Wahnsinn, bis alles auffliegt.

Während Yong-Hye vertrockt, keimt in In-Hye ein Verdacht

Yong-Hye vegetiert in einer Psychiatrischen Klinik; alle haben sich von ihr abgewandt. Alle außer ihrer Schwester In-Hye, aus deren Perspektive dieser letzte Teil geschrieben ist.

Zunächst war ich über den dritten Teil des Romans irritiert. Yong Hyes Schwester In-Hye blieb für mich merkwürdig blass, wohingegen die Charaktere der Männer in den ersten beiden Teilen deutlich zutage getreten waren. Erst gegen Ende erhärtete sich mein Verdacht, dass In-Hye die heimliche Protagonistin des Romans ist und die Farblosigkeit Teil ihrer fatalen Überlebensstrategie.

Beide Schwestern haben als Kinder unter dem cholerischen Vater gelitten; In-Hye hat es geschafft, sich durch ihre Kochkunst unentbehrlich zu machen, so dass Yong-Hye die meiste Gewalt traf. Um das zu beenden, versucht Yong-Hye sich unauffällig zu machen, damit sie übersehen wird, was zunächst zu gelingen scheint. Doch sie ist gezeichnet – der Mongolenfleck der Kindheit verschwindet nicht, er wird nur durch Kleidung überdeckt. Schließlich wird sie nicht nur zur Vegetarierin, womit sie die Kooperation mit der Familie aufkündigt und den Vater zu neuerlicher Gewalt provoziert, sondern sie zeigt sich zugleich mit nacktem Oberkörper in der Öffentlichkeit und deckt damit den Fleck wieder auf.

In-Hye schützt sich auch als Erwachsene einerseits durch Tüchtigkeit, andererseits indem sie ihre Gefühle auf andere projiziert. Sie verliebt sich in ihren Mann, weil er so erschöpft aussieht, wie sie sich fühlt, und ist fortan bemüht, ihm die Erholung zu verschaffen, derer sie selbst bedarf:

Sie realisierte erst nach einiger Zeit, dass eigentlich sie diejenige war, die eine Atempause nötig hatte, nicht er. Sie hatte ihre Bedürfnisse auf diesen müden Mann projiziert. Sie war diejenige, die mit neunzehn ihr Elternhaus verlassen und ohne fremde Hilfe in Seoul ihren Weg gemacht hatte. Plötzlich war sie sich auch ihrer Liebe zu ihm nicht mehr sicher und zweifelte an seiner. [S. 130/189]

Dieses Muster zieht sich durch. Yong-Hye drückt In-Hyes unbewusstes Gefühl, sonicht mehr weiterleben zu können, auf eine derart krasse Weise aus, dass es nicht länger ignoriert werden kann:

Bei allem, was sie tat, gab sie ihr Bestes. Egal ob als Tochter, große Schwester, Ehefrau, Mutter, Geschäftsfrau oder Fahrgast in der U-Bahn. Dieser Charakterzug hätte ihr zweifelsfrei geholfen, die unschöne Episode mit der Zeit hinter sich zu lassen, wäre da nicht Yong-Hyes Verschwinden im vergangenen März gewesen, wäre ihre Schwester nicht in dem Wald in dieser regnerischen Nacht wiedergefunden worden und wären daraufhin ihre Symptome nicht schlimmer geworden. [S. 138/189]

Yong-Hyes Metamorphose zur Pflanze schreitet fort. Die Ablehnung aller tierischen Lebensmittel wird zur Ablehnung aller Lebensmittel überhaupt. Dass sie sich schließlich für einen Baum hält, bedeutet zugleich eine Ablehnung ihrer menschlichen Existenz – dass sie als Baum keine Nahrung aufnehmen zu müssen glaubt, bedeutet faktisch ihren Tod als Mensch. Erst jetzt wird In-Hye bewusst, dass sie in einem falschen Leben feststeckt. Dass sie bisher nicht gelebt hat und kurz davor war aufzugeben. Yong-Hyes Aufstand ist die reinigende Katastrophe, die In-Hye ein lebenswertes Leben erst ermöglicht.

In diesem letzten Teil verändert sich der Erzählmodus deutlich: Yong-Hyes Mann und ihr Schwager erzählten als Ich-Erzähler im Präteritum, jetzt erzählt ein personalisierter Erzähler aus Sicht In-Hyes im Präsens. Der Ich-Erzähler hat gemeinhin eine noch geringere kritische Distanz zum Erzählten als der personalisierte Erzähler, wohingegen das Präsens häufig eine zeitliche Distanz zum Erzählten aufzuheben scheint; somit würde durch den Wechsel der Erzählmodi Distanz zugleich vergrößert und verringert. Die Diskrepanz der Wirkungen schärft die Aufmerksamkeit des Lesers: Wir sind näher an In-Hyes Erleben und merken dadurch stärker, dass sie zu ihrem Selbst eine größere Distanz hat; sie erlebt sich durch Projektion, deshalb kann sie kein Ich-Erzähler sein. Yong-Hye zwingt sie, das wahrzunehmen. Wie ein Baum, der seine Wurzeln durch festes Mauerwerk treibt, reißt sie In-Hyes Lebenskonstrukt ein.

Schon als Kind hatte Yong-Hye einmal versucht, gemeinsam mit In-Hye aus der Familie auszubrechen. Die beiden Schwestern hatten sich verlaufen, und Yong-Hye schlug vor, dass sie einfach nicht nach Hause gehen. Für In-Hye war das undenkbar, sie empfand Erleichterung als sie nach Hause fanden, aber ihre Schwester äußerte nichts dergleichen:

Sie betrachtete nur stumm die Pappeln am Wegesrand, die von der Dämmerung eingehüllt wurden.

Kurz bevor ihr Schwager sie mit Blumen bemalt, steht Yong-Hye am Fenster und starrt wieder auf Pappeln. Diese Bäume stehen in der abendländischen Literaturgeschichte seit Homer für den Tod, Pappeln säumen den Wegesrand zur Unterwelt im Hain der Persephone. Ich überblicke nicht, welche Bedeutung die Pappel in der asiatischen Literaturgeschichte hat, aber selbst ohne Homer im Hinterkopf deutet sich in In-Hyes Kindheitserinnerung schon das Ende an: Yong-Hyes dunkle Sehnsucht, lieber bei den Bäumen als zu Hause zu sein und die Weise, auf die sie ihre Schwester aus der Illusion, die sie sich von ihrem Leben macht, herausreißen wird. Der Bezug zum Tod wird durch eine weitere Baummetapher noch verstärkt: Im Innenhof der Klinik steht eine Ulme, auf die Yong-Hye aus ihrem Fenster blickt. Wenn In-Hye sie bewundert, hat sie das Gefühl, die Ulme wolle ihr etwas mitteilen [S. 133/189]. Auch die Ulme war in der griechischen Antike mit der Unterwelt assoziiert. Persephone verbringt aber nicht das ganze Leben in der Unterwelt: Sie steigt für den Winter hinab und kommt im Frühling wieder hervor – und das Leben beginnt von Neuem zu sprießen. Yong-Hye stirbt, damit In-Hye lebt.

Han Kangs Die Vegetarierin ist eine faszinierende, motivisch äußerst dichte Erzählung, mit der ich noch lange nicht gedanklich fertig bin. Sie lässt mich still und bewegt zurück.
Diese Rezension erschien zuerst auf meinem Literaturblog comparaison d'être .
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