Cover des Buches Tigerküsse (ISBN: 9783944512037)
Rezension zu Tigerküsse von Hanna Leybrand

Vom Tiger geküsst

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 9 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 9 Jahren
Pornographische Literatur garantiert Millionenauflagen. Vor allem, wenn sie aus weiblicher Hand stammt. Mit Fifty Shades of Grey sorgte die britische Autorin E.L. James dafür, dass SM-Praktiken unter die Leute kamen; die Schoßgebete der deutschen Charlotte Roche seufzten durch das Feuilleton sämtlicher großen Zeitungen. Ob diese Bücher wirklich tabulos sind, ob sie unbedingt Wissenswertes über weibliche Sexualität enthalten, ob sie Unterhaltungswert besitzen, Experimentierfreude wecken oder gar den Zeitgeist widerspiegeln – das ist eine Frage, deren Beantwortung sehr von individuellen Kenntnissen und Einstellungen abhängt. Einig waren sich selbst gutwillige Kritiker zumeist darin, dass die zum Voyeurismus einladenden Obszönitäten einfach bloß schlecht und schlampig geschrieben waren.

Dieses nun wird man Hanna Leybrands Tigerküssen nicht nachsagen können. Die Heidelbergerin wurde als Lyrikerin bekannt und mit großem Lob bedacht. Hervor gehoben wurden vor allem Leybrands beeindruckende Variabilität lyrischer Formen, die stilsichere Souveränität der Sprache, die einfühlsame Prägnanz ihrer Bilder und ihre leichthändige Virtuosität im Umgang mit literarischen Vorbildern. Bereits 2011 stellte Leybrand in Das Nest ihre Begabung für facettenreiche Kurzprosa unter Beweis.

Drei Jahre später präsentiert sie sich nun erneut als Erzählerin von Rang. Wieder stehen im Mittelpunkt Geschichten über die Liebe, jetzt aber mit deutlicher Akzentuierung der erotischen Komponenten. Bei aller himmelsstürmenden Liebesbejahung zeigt Leybrand als Schriftstellerin, dass sie nie die Bodenhaftung verliert. Das Glück erotischer Begegnungen ist tatsächlich Glück, es ist nie pathetisch, nie trivial. Schmerz ist tatsächlich Schmerz, er wirkt nie wehleidig, nie schal. Ernst und lakonisch, aber zum Teil mit einem gehörigen Schuss Selbstironie und Komik bedenkt Hanna Leybrand sehnsuchtsvolle Höhenflüge – und banale Niederlagen. Dieser ganz eigene Ton prägt die beiden kleinen erotischen Romane, die nun unter dem Gesamttitel Tigerküsse erschienen sind.

Der erste, titelgebende Roman kontrastiert kunstvoll zwei Erzählebenen. Die Rahmenhandlung bildet ein Ausflug von vier Freundinnen der Fünfzig-plus-Generation – frei nach Sex-and-the-City. Eine der Damen schriftstellert und präsentiert bei Kerzenlicht die Erzählung über eine Sammlerin chinesischer Kunstwerke, zu deren Favoriten frühe Meisterwerke erotischer Literatur gehören. Die darin ebenso virtuos wie beglückend geschilderten Liebesakte ermutigen die junge Frau, einen taoistischen Feldversuch zu wagen... Aber dabei bleibt es dann nicht. Aus den Höhen chinesischer Erotikkunst stürzt die Leserin im zweiten Roman in die Untiefen der Liebe in einem Sanatorium. Martha, die mit allen Spielarten der Liebe vertraute, attraktive und kluge Hauptfigur, beginnt dort ein erosdurchleuchtetes Techtelmechtel mit einem Tunichtgut…

Hanna Leybrand haucht mit Tigerküsse dem verloren geglaubten Genre des erotischen Romans neues modernes Leben ein. Alltägliches und Exotisches, Frivoles und Geschmackvolles, Bitteres und Heiteres, Amüsement und Todernst der Liebe werden in einem ebenso präzisem wie schwerelosen Plauderton weitergegeben, wissend, dass Liebeserfahrungen nicht teilbar sind, aber doch mitgeteilt werden wollen. Zuweilen ist die Leybrand rotzfrech, aber nie obszön. In eroticiis ist sie häufig schamlos, aber nie indiskret. Das gibt dem erotischen Roman wieder, was er in seinen Glanzzeiten hatte: Kunstfertigkeit. Sie ist bei aller erfahrungsgesättigten Voraussetzung, Romane wie diese schreiben zu können, letztlich der Grund, sie lesen zu müssen. Weit entfernt von der Darstellung brachial-pornographischer Körperlichkeit setzen Hanna Leybrands Tigerküsse die Phantasie in der Erotik wieder in ihr Recht.

Tigerküsse wurden – wie Hanna Leybrands andere Werke – im Manutius Verlag Heidelberg verlegt. Das kleine feine Buch ist liebevoll gestaltet. Das Cover trägt ein Titelblattentwurf des englischen Graphikers und Dichters Aubrey Beardsley für die Jugendstil-Zeitschrift The Yellow Book aus dem Jahr 1894. Beardsley ließ sich als Illustrator von der Kunst des japanischen Holzschnitts beeinflussen. Nichts könnte besser als Entree für Hanna Leybrands erotische Romane gewählt sein, als diese in Schwarz-Weiß-Gegensätzen dargestellte Begegnung eines Paares. Zudem ist der titelgebende Roman mit literarischen Zitaten angereichert, die in filigranen Rahmen typographisch abgesetzt sind: sie verweisen auf eine interkulturelle Lesart von Liebeserfahrungen, die in einen spannungsreichen Bezug zu den erzählten Geschichten gesetzt werden, diese illustrieren oder kommentieren, parodieren oder kontrastieren. Ein erotisch-bibliophiles Kleinod!
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