Rezension zu "Über die Verborgenheit der Gesundheit" von Hans-Georg Gadamer
Dieses Buch habe ich auf Französisch gelesen, in der Übersetzung von Marianne Dautrey aus dem Jahr 1998, die als "Philosophie de la santé" betitelt wurde. Die Übersetzung behält manche Begriffe auf Deutsch bei.
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In 13 Kapiteln reflektiert Gadamers Essay über die Erfahrung des Todes, das Wesen der ärztlichen Behandlung, den Begriff der "Ganzheit" sowie, im 8. Kapitel, über das, was er "die Verborgenheit der Gesundheit" nennt.
Zunächst wird Krankheit als Einschränkung des Lebensraums definiert. Wenn wir krank sind, verbietet man uns aufzustehen oder das Haus zu verlassen. Weiter hebt Gadamer ab, die Entkoppelung von Krankheit und Person festzustellen. Krankheitssymptome werden in der modernen Medizin objektiviert. Man möchte sie "beherrschen". Dabei ist das, was man gemeinhin als Krankheit versteht, eingebettet in die Entwicklung einer Gesamtpersönlichkeit. Wer aber bei der Behandlung der sichtbaren Symptome ansetzt, verkennt den verborgenen Charakter der Gesundheit.
Sodann verweist Gadamer auf den Bezug zwischen den Begriffen "Behandlung" und "Hand". Der gute Arzt berührt und erspürt das, was dem Patienten fehlt. Medizinische Behandlung ist dabei nicht so sehr das Verschreiben von Wirkstoffen oder das Aufzwingen einer Therapie. Der griechische Begriff "therapie" bedeutet "Dienst", sodass die medizinische Behandlung sich stets in den Dienst der Natur zu stellen habe. Behandlung ist für Gadamer eine Form von Befreiung, etwa von unzuträglichen Lebensgewohnheiten.
Gesundheit ist keine Frage der Methode, sondern vielmehr ein rhythmisches Lebensprinzip, das Gadamer am Beispiel des Einschlafens veranschaulicht. Dem Einschlafen kann man sich nur schwer entziehen; es kommt über uns und trägt uns. Der gute Arzt wiederum hat die Aufgabe, "die Alterität zu erkennen, die dem Anderen innewohnt" ("reconnaître l'alterité qui est en l'autre", S. 119), die, Gadamers Ausführungen zufolge, nah bei diesem Rhythmus angesiedelt zu sein scheint. Diese Alterität ist eben verborgen; sie ist nicht zu fassen und auch nicht vermittels medizinischer Interventionen herbeizuführen.
Abschliessend bringt Gadamer den Begriff der Erfüllung ins Spiel: "la santé c'est être empli de ses propres problèmes existentiels, dans l'action ou dans la joie" (S. 122). Gesundheit sei das Erfülltsein von den eigenen existentiellen Anliegen, in der Aktivität oder in der Freude. Das französische Wort "problèmes" ist meiner Meinung nach irreführend in diesem Zusammenhang. Wie kann man angesichts von Problemen Erfüllung empfinden? Ich vermute, es geht dabei eher um "Anliegen" - um das, was jedem Einzelnen wichtig ist für ein erfülltes Leben.
Dass der von Gadamer beschriebene Gesundheitsbegriff im Sinne einer "Selbstvergessenheit" - auch das ein Begriff, den Gadamer benutzt - und Hingabe an jenen übergeordneten Rhythmus, der uns durchs Leben trägt, nicht in den vier Wänden einer Arztpraxis hergestellt werden kann, versteht sich von selbst. Gesundheit geht einher mit einem bestimmten Selbstverständnis des Menschen, das den Umgang mit dem Tod, der Natur und dem technischen Fortschritt mit einschliesst. Gadamer hat hier somit eine ganzheitliche Betrachtung der Gesundheit vorgelegt, die auch den im 20. Jh. stark in Verruf geratenen Begriff der Seele in seine Überlegungen eingliedert.