Was ist "historische Epistemologie", diese neue, hippe Forschungsrichtung, für die es derzeit (02.11.2015) noch nicht einmal einen Wikipaedia-Eintrag gibt? Hans-Jörg Rheinberger skizziert sie in seinem Einführungsband von 2007 als Philosophie der Wissenschaftsgeschichte, die die Praxis und experimentelle Techniken betont. In seinem kurzen Buch (125 Seiten Text) behandelt Rheinberger weitgehend chronologisch die Entwicklungen der historischen Episteologie im 19. und 20. Jahrhundert. Dafür versammelt Rheinberger einflussreiche Denker, deren Auswahl etwas ungewöhnlich ist - mit guten und weniger guten Folgen.
Rheinberger gilt heute mit Recht als Koryphäe der Wissenschaftsgeschichte und der historischen Epistemologie (im Folgenden: HE). Von 1997 bis 2014 war er Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Von Hause aus Molekularbiologe, hat er den Fokus der Wissenschaftsgeschichte nachhaltig auf die "Experimentalsysteme" gerichtet. Seine von Bachelard, Heidegger und Derrida beeinflussten Analysen der Vorgänge in biologischen Labors sind eine faszinierende Lektüre - was ist also über diesen Einführungsband zu sagen?
Konzept:
Das Buch hat eine klare Struktur, in der man sich gut zurechtfindet. Die Darstellung ist größtenteils chronologisch, dann streckenweise nach Kontexten aufgeteilt, die einzelnen Kapitel sind kurz und übersichtlich gestaltet. Die Denker sind prägnant dargestellt, fast ohne Vermischungen, so dass Leser auch selektiv den eigenen Interessen folgen können. Im Anschluss stehen jeweils kleine Abschnitte, in denen Bezüge zwischen verschiedenen Denkern hergestellt werden.
Viele Absätze sind für eine Einführung zu lang - hier hätte man den Text noch feiner gliedern können. Der Stil ist akademisch, aber auf einfachem Niveau, also auch gut geeignet für Studierende. Der Anhang erfüllt die Standards - mit Anmerkungen, Bibliographie und Namensregister. Allerdings hätte man mit kommentierten Lektürehinweisen dem Einsteiger einen schönen Dienst erwiesen, wie in vielen Einführungswerken üblich.
Inhalt:
Das Buch beginnt mit initialen Debatten im 19. Jahrhundert, bei Emil Du Bois-Reymond, Ernst Mach und Henri Poincaré. Es stellt die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften bei Wihelm Dilthey dar sowie Otto Neuraths Programm einer einheitlichen Wissenschaft. Nach diesen Schlaglichtern wird im zweiten Kapitel Gaston Bachelards pluralistische, historisierende Auffassung der Wissenschaften skizziert. Danach erläutert Rheinberger die "Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv" von Ludwig Fleck, die er als komplementär zu jener Bachelards versteht. Das dritte Kapitel widmet sich vier Auffassungen über Wissenschaft und Geschichte: Karl Popper, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Ernst Cassirer, die das theoretische Klima zwischen den Weltkriegen entscheidend prägten. Im vierten Kapitel fokussiert Rheinberger auf die soziologisch geprägte Wissenschaftstheorie: Thomas S. Kuhn, Stephen Toulmin und Paul Feyerabend. Im fünften Kapitel ist dann die französische Tradition Thema: Georges Canguilhem, Michel Foucault und Jacques Derrida. Im sechsten und letzten Kapitel stellt Rheinberger die aktuellen Positionen von Ian Hacking und Bruno Latour vor und versammelt abschließend einige Reflektionen zur Entwicklung der HE insgesamt.
Die Auswahl der Denker ist etwas eigentümlich: Größen der Wissenschaftstheorie wie Popper, Kuhn, Hacking und Latour durfte man bei einem wissenschaftsgeschichtlichen Thema erwarten. Dagegen scheinen die Ergänzungen aus dem philosophischen Kanon etwas beliebig. Die Wahl Husserls und Heideggers sind durch Rheinbergers theoretischen Hintergrund beeinflusst. Allerdings hätte er, wenn es um philosophische Stellungnahmen zur Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte geht, ebensogut bei der Frankfurter Schule, der Hermeneutik oder der Systemtheorie fündig werden können. Auch hält sich Rheinberger trotz des engen Rahmens mit Derrida auf (ein interessanter Denker, aber ohne nähere Erläuterung in einer Einführung zur HE deplaziert).
Dagegen sind themenrelevante Entwicklungen, wie die evolutionäre Erkennntistheorie, Piagets genetische Epistemologie, die feministische Epistemologie oder die Historik nicht einmal abgrenzend erwähnt. Nun gut - man kann nicht alles. Die üblichen Meckereien im Stile von "Warum den, und nicht den (über den ich zufällig selber forsche)?" sind müßig. Dennoch wird das Buch dem repräsentativen Rahmen einer Einführung, den es sich selbst steckt, nicht gerecht. Schade ist auch, dass Rheinberger die Ansätze der "neuen Experimentalisten" (Lorraine Daston, Peter Galison und sich selbst) kaum erwähnt - vielleicht (unnötige) Bescheidenheit?
Urteilsfindung:
Eine Leistung des Buchs ist, dass es Brückenschläge zwischen ansonsten getrennten Disziplinen anregt: Wenn wir Erkenntnis verstehen wollen, dann sollten wir Wissenschaft zu verstehen versuchen - und das gelingt weniger als Rekonstruktion logischer Systeme, sondern als Betrachtung ihrer Geschichte. Diese Geschichte sollten wir nicht als Leistung großer Männer erzählen, nicht als Erfindungs- oder Theoriegeschichte, und ebensowenig als Geschichte der sozial-politischen Umstände. Stattdessen sollten wir uns den wissenschaftlichen Praktiken und ihren materiellen und technischen Bedingungen zuwenden. Diese interdisziplinäre Konfiguration ist außerordentlich spannend - nur eines betreibt Rheinberger im Buch nicht: Historische Epistemologie.
Das Buch stellt Denker und Auffassungen der Methodologie einer historischen Epistemologie dar. Die Rolle der Praktiken und technischen Verfahren wird für das Verständnis von Wissenschaft theoretisch betont. Es tauchen jedoch kaum Beispiele auf, geschweige denn Fälle konkret durchgeführter HE. Rheinberger führt aus, was über Wissenschaft, über Erkenntnis, über Geschichte gedacht wurde - aber er zeigt nicht, wie das unseren Blick auf diese Phänomene verändert hat. In dieser Form schreibt Rheinberger die Geschichte der HE genau nach dem Muster, das die HE an der klassischen Geschichtsschreibung kritisierte: Geschichte als Aufreihung der Leistungen berühmter Männer.
Englische Ausgabe:
Interessant ist, dass dieses Buch 2010 in der englischen Übersetzung erschienen ist (On historicizing epistemology: an essay, Stanford University Press) - nicht als Einführung, sondern als Essay. Das ist erstaunlich, verfolgen doch ein "Essay" als freier Versuch über ein Thema einerseits und ein "Einführungsband" für Studierende andererseits nahezu konträre Ziele und haben sehr unterschiedliche formale Ansprüche. Dennoch charakterisiert Rodolphe Gasché das Buch auf dem Klappentext auch als eine Einführung in die Wissenschaftsgeschichte, die im anglo-amerikanischen Raum durchaus methodologische Überlegungen einschließt. Wäre der übersetzte Titel "Über die Historisierung der Epistemologie" vielleicht am Ende auch der deutschen Ausgabe angemessener?
Fazit:
Das Buch bietet einen guten ersten Überblick für jene, die sich über Positionen und Grundauffassungen der HE orientieren wollen. Allerdings bietet es wenig Nutzen für jene, die HE betreiben wollen. Dabei ist Rheinberger am Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte tätig und hätte aus dem dortigen Fundus exemplarische Forschungen vorstellen können. Erst Vergleiche solcher Studien mit klassischer Philosophie der Wissenschaft und klassischer Wissenschaftsgeschichte können zeigen, was der methodische Standpunkt der HE zu leisten in der Lage ist. Wenn HE einen spezifischen Sinn hat, dann scheint mir dieser jenseits dessen zu liegen, was Rheinbergers Buch artikuliert. Alles darin Dargestellte sind wichtige methodologische Grundlagen - und auch Rheinbergers individuelle Auswahl und Sichtweise ist dabei zumindest interessant. Jedoch ist die methodische Konfiguration der HE weder konkret ausgeführt, noch mit anderen Ansätzen kontrastiert. Insofern komme ich zu dem Urteil, dass dieses Buch seinem Anspruch leider weniger gerecht wird, als die lesenswerten Fachbücher des Autors es in gekürzter und etwas vereinfachter Form würden.