Cover des Buches Abraham Ulrikab im Zoo (ISBN: 9783926308108)
Rezension zu Abraham Ulrikab im Zoo von Hartmut Lutz

Rezension zu "Abraham Ulrikab im Zoo" von Hartmut Lutz

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 13 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 13 Jahren
Im Jahr 1880 bringt der norwegische Kapitän und Impresario Johann Jacobsen acht Inuit aus Labrador nach Europa (zwei Familien, eine schamanische und eine christliche). Sie haben vereinbart, dass die Familien gegen Bezahlung einige Monate in Hagenbecks populärer Völkerschau auftreten werden. Diese Völkerschauen finden im jeweiligen Zoo der Stadt statt. Dort werden den beiden Familien inuittypische Behausungen zur Verfügung gestellt. Sie sollen keine einstudierte Schau vorführen, sondern Szenen ihres Alltags zeigen. Da sie nicht gegen Pocken geimpft waren, starben alle acht nach viereinhalb Monaten in Europa. Einer der acht war Abraham Ulrikab aus Hebron in Labrador. Der 35jährige konnte schreiben, zeichnen und Geige spielen und war zum Zeitpunkt der Abreise schon längst zum Christentum übergetreten. Sein Tagebuch, das er in Inuktitut geschrieben hat, wurde vom Unitätsbruder Kretschmer ins Deutsche übertragen. Da das Originaltagebuch verschwunden ist, stützt sich das hier besprochene Buch auf diese Übersetzung. Die von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald herausgegebenen und von Anglistik-Studierenden zusammengetragenen Texte enthalten die überlieferten Tagebucheinträge des zum Christentum konvertierten Inuk Abraham Ulrikab, sowie Briefe an die und von der evangelischen Brüder-Gemeinde Herrnhut, zeitgenössische Zeitungsartikel und Werbung, sowie ein lesenswertes Vorwort des Inuit-Künstlers Alotook Ipellie. Die Auswertung dieser Quellen verantworten Kathrin Grollmuß, deren Magisterarbeit den Titel trägt: "Ausstellungsgegenstand oder Forschungsobjekt? - the Diary of Abraham Ulrikab als Geschichte und Text in Deutschland", sowie Prof. Dr. Hartmut Lutz, der Amerikanistik/Kanadistik an der Uni Greifswald unterrichtet. Anfangs habe ich mich gefragt, warum dieser Stoff ein Thema für die Anglistik sein soll, da ja alle Quellen deutschsprachig sind (sogar der norwegische Kapitän Jacobsen hat, aus was für Gründen auch immer, sein Tagebuch auf deutsch verfasst). Die Antwort darauf ist, dass Prof. Lutz das Interesse und die Erinnerung an Abraham Ulrikab und seine Gefährten wecken und erhalten wollte, weil deren Geschichte bis dahin nicht sonderlich bekannt in Kanada und Labrador war. Zudem handelt es sich bei diesem Text um die wahrscheinlich erste Inuk-Autobiographie überhaupt. Die deutsche Ausgabe ist ein Nebenprodukt der englischen Übersetzung. Leider fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit allen Beteiligten dieser Reise im vorliegenden Band. Als allgemeiner Konsens wird eine strikte Ablehnung von Völkerschauen vorausgesetzt. Aber ist das so einfach und klar? Um 1880 verwandeln sich die aufkommende Archäologie und Ethnologie langsam von abenteuerlichen Schatzsuchen zu Wissenschaften. Die Idee Menschen im Zoo auszustellen erscheint heute absurd, aber damals wie heute ist der Zoo ein Ort bürgerlicher Bildung. Im Gegensatz dazu traten in den fahrenden Schaubuden Menschen aus fernen Ländern mit festen Choreografien auf, meist mit dem Ziel ihr Publikum zum Lachen oder sich fürchten zu bringen. Genau das wollte Hagenbeck nicht. Er wollte, soweit ich das herauslesen kann, Menschen anderer Kulturen zeigen, die sich so verhalten und leben, wie sie es zu Hause zu tun pflegen. Eben Alltag im gewohnten Umfeld. Da viele dieser Menschen raumgreifenden Tätigkeiten in der freien Natur nachgingen, erscheint mir die Wahl des Veranstaltungsortes Zoo nun nicht mehr so abwegig. In diesem Buch wird häufig darauf hingewiesen, dass die hebroner Brüder-Unität Abraham von dieser Reise dringend abgeraten habe, er aber trotzdem mit nach Europa fahren wollte. "... denn [sie] sind Kinder u. ahnen nichts Böses, sondern erwarten immer das Beste." So schreibt Bruder Kretschmer an Bruder Conner am 20.8.1880. Ein 35jähriger Mann ist kein Kind. Er kann durchaus selbst entscheiden, ob er eine Reise antritt oder nicht. Ist es nicht (mindestens) herablassend einem Erwachsenen, der nicht die gleiche Meinung hat, zum Kinde zu erklären? Eben diese Bevormundung taucht immer wieder auf. Abraham war durchaus kein machtloser Tagelöhner, wie seine Reaktion auf folgenden Vorfall zeigt. Jacobsen hatte aus unbekanntem Grund den Inuk Tobias geschlagen, der Abraham davon erzählte. Abraham war erschüttert und sagte Jacobsen, dass er im Wiederholungsfalle einen Brief nach England schreiben würde, worauf Jacobsen sehr freundlich wurde und den Frauen seidene Bänder kaufte (vgl. Eintrag vom 7.11.1880). Leider ist die Meinung seiner Frau Ulrike und die der anderen Familie nicht überliefert, so dass ich meinen Standpunkt von der Selbstbestimmung des Menschen nur an Abrahams Äußerung festmachen kann. Wenn also damals wie heute Leute aus den Medien, Wissenschaften und dem Bürgertum reflexartig gegen die Völkerschauen wettern, gebe ich zu bedenken, dass die Inuit Europa sehen wollten und wussten wie die Auftritte ablaufen würden. Eine Reise nach Europa hätten sie sich nicht leisten können, geschweige denn eine Reise von der zu erwarten war, dass sie Geld abwerfen werde. Warum Menschen sich zur Schau stellen weiß ich nicht, aber dieses Phänomen ist nicht von gestern, schließlich lassen sich viele in Casting-Shows öffentlich demütigen und das für ein wenig Geld und einen Hauch von zweifelhaftem Ruhm. Abraham Ulrikab wollte in den großen europäischen Kirchen beten und singen und seine Glaubensgeschwister treffen. Was er auch alles tat. Übrigens haben sich die Inuit auch für ferne Länder und deren Einwohner interessiert. So schreibt Ulrikab am 27.10.1880 über den Besuch im Wachsfigurenkabinett: "Nubier, Afrikaner haben wir auch gesehen, u. Chinesen u. Inder u. Amerikaner u. Kalifornier, ja gewiß die Bewohner der Welt, sehr viele haben wir gesehen in Berlin." Mir ist klar, dass Hagenbeck mit seinen Völkerschauen nicht nur edukative Ziele verfolgte, er wollte natürlich Geld verdienen, aber er hat diese Inuit weder verschleppt noch gezwungen Teil seiner Schau zu sein. Diese erwachsenen Menschen haben durchaus ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgt und sich freiwillig für dieses Unternehmen gemeldet. Dass sie an den Pocken erkranken und sterben würden war ein unbeschreibliches Pech, das Hagenbeck nur zu verantworten hat, wenn die Impfung vorsätzlich unterlassen wurde. Den Unitätsbrüdern war es wichtig zu betonen, dass Abraham seine Reise nach Europa vor seinem traurigen Tode bereute. Warum? Darf ein Missionierter nicht die Welt erkunden? Soll er nur von der Welt wissen, was die Brüder ihm an Wissen zugestehen? Warum soll er keine eigenen Erfahrungen machen? Dass er Pocken bekam, hat doch mit seiner Entscheidung zu reisen nur so viel zu tun, dass die Unitätsbrüder (schließlich aus Deutschland stammend) ihn zu Impfungen hätten drängen müssen. Sie hätten Jacobsen gegenüber darauf bestehen müssen, so wie sie darauf bestanden, dass Abrahams Familie nicht mit der schamanischen Familie zusammen wohnen sollte und wie sie darauf bestanden, dass die Inuit keine Spirituosen zu trinken bekämen. Wenn Bevormundung, dann doch bitte richtig! Wer hat die Inuit für voll genommen? Die Missionare, die den Inuit die Religion und Gesellschaftsordnung eines ihnen unbekannten Landes einredeten und sie Kindern gleich setzten? Hagenbeck, der die Inuit in ihrer ursprünglichen und eigenen Lebensweise zeigen wollte und ihnen dafür Europa zeigen und sie bezahlen wollte, obwohl die Bezahlung vermutlich zu gering war? Jacobsen, der die Inuit nach Europa holte und dessen Frau für sie kochte und wusch, der aber mindestens einmal zur Peitsche griff, dann aber Angst vor Abrahams Brief nach England bekam? Leute aus Medien und Wissenschaft, die sich strikt gegen eine Völkerschau aussprachen, ohne mit den Inuit selbst gesprochen zu haben? Der Arzt Rudolf Virchow, der die Inuit vermaß und ihnen als Intelligenztest Farbtafeln zeigte, die sie benennen sollten. Ha! Hätte man Virchow eine Tafel mit 10 verschiedenen Fischen aus Labrador gezeigt, hätte er bei der Benennung wohl passen müssen. War er also schwachsinnig oder haben auf Intelligenz beruhende Fertigkeiten etwas mit dem Umfeld des Menschen zu tun? Ich schweife ab. Jedenfalls finde ich es falsch bei den (damals unbelasteten) Begriffen: Volk, Völkerausstellung, Zoo direkt eine klare Opfer / Täter Zuordnung zu liefern. Damit beleidigt man den freien Willen und die Selbstbestimmung des Menschen. Um nicht falsch verstanden zu werden: natürlich gibt es Szenarien, in denen Menschen vor sich selbst geschützt werden müssen. Aber die Inuit, um die es hier geht, haben sich frei entschieden 4 Stunden am Tag (mit vielen Pausen) zu zeigen wie sie leben und arbeiten. Das ist etwas anderes. Folgende Fragen blieben bei der Lektüre leider offen, weshalb es mir nicht möglich erscheint eine klare Meinung zum Thema Völkerschauen zu vertreten: 1. In Labrador gab es keinen Arzt. Warum ließ Jacobsen die Inuit nicht direkt bei Ankunft in Europa impfen? 2. Wenn ein Tagessatz Lohn pro Person ausgemacht war, war warum schreibt Ulrikab am 11.11. "Wenig Menschen. Geld kriegen wir keins weil ihrer zu wenig waren."? 3. Ulrike muss eine Schwester oder einen Bruder gehabt haben, weil der junge Mitreisende, namens Tobias ihr Neffe war. Was wurde aus der labradorer Verwandtschaft? 4. Während die kleine Tochter Sara noch im Krankenhaus lag, reisten sie schon weiter nach Paris. Als Noggasak, die Tochter der Schamanen starb, wurde sie in Darmstadt begraben und die Truppe zog ein paar Tage später weiter. Geschah dies freiwillig? Wie betrauern und bestatten Inuit ihre Toten? 5. Wieso wurde Jacobsen Paingos Schädeldecke ausgehändigt? NACHTRAG: Gerade habe ich unter http://batteryradio.com/Pages/Abraham.html eine gut 100minütige Hörspielbearbeitung des Tagebuchs gehört. Außerdem Interviews und mehr Hintergrundinformationen als im o.g. Buch stehen. Einige Fragen haben sich dadurch geklärt: Zu 1: Jacobsen hat die Impfung der Inuit schlicht vergessen. Das ist fahrlässig! Zu 4: Es hat Jacobsen viel Überredung gekostet Abraham und Ulrike dazu zu bewegen, ihr kleines Mädchen im Krankenhaus zu lassen. Jacobsen erwähnt, dass er dafür Hilfe von einem Chef brauchte. Das ist menschlich ziemlich daneben. Es wird erwähnt wie traurig sie nach dem Tode des Kindes waren und das der Schamane nach dem Tod seiner Frau und Tochter nur noch den Wunsch hatte, ihnen schnellstmöglich zu folgen. Das klingt tatsächlich nach starkem Druck auf die Inuit. Zu 5: Nach der Autopsie hat Jacobsen die Schädeldecke eingesteckt. Als ein Wiener Museumsdirektor ihn fragte, ob er noch Exponate für seine Ausstellung beisteuern könne, gab er dem Wiener die in Papier gehüllte Schädeldecke und war froh sie losgeworden zu sein. Jacobsen erzählt, dass er der letzten Überlebenden Ulrike wohl auf dem Krankenbett das Haar streicheln wollte, sie ihm aber die Hand weggeschoben habe. Alles im allen ergibt sich das Bild eines skrupellosen wenn auch nicht gefühllosen Jacobsen.
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