Cover des Buches Der halbe Mond (ISBN: 9783784433776)
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Rezension zu Der halbe Mond von Hasan Cobanli & Stephan Reichenberger

ein Leben zwischen den Stühlen, zuhause heimatlos, gefangen in der Zeit und immer auf der Suche...

von miro76 vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Das Buch schlägt eine Brücke zwischen Deutschland und der Türkei und verbindet Generationen und Völker in einem einzigen Leben.

Rezension

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miro76vor 9 Jahren

Es war wohl kein leichtes Unterfangen, dem sich Hasan Cobanli stellte, als er gemeinsam mit Stephan Reichenberger begann seine Familiengeschichte niederzuschreiben und uns so einen tiefen Einblick in hundert Jahre deutsch-türkische Geschichte zu gewähren.

Schon seinen Großvater Cevat Pascha verband eine Menge mit dem deutschen Volk, kämpfte er doch an dessen Seite im ersten Weltkrieg. Sein Sohn Feridun, Hasans Vater, weilte zu dieser Zeit bereits in Deutschland und besuchte ab seinem zehnten Lebensjahr die Kadettenschule. Zehn Jahre verbrachte Feridun in Deutschland, wo er in der Familie des Rittmeisters von Roon eine Ersatzfamilie fand. Auch dies Bande, die ihn nie mehr loslassen sollten.
Cevat Pascha und Feridun verband kein herzliches Vater-Sohn Verhältnis. Zu früh wurde er in die weite Welt geschickt, um Kriegsstrategie und Heldenmut zu erlernen. Ihm fehlte die Liebe der Eltern, die jede Kindheit prägen sollte. Die Suche nach Liebe wird für immer sein Antrieb werden, denn es gibt nicht die EINE, die ihm genug Halt bieten kann.

„Ja, ich liebe sie alle! Die eine, weil sie wie aus einem Roman ist, eine, weil sie devot ist, eine andere, weil sie frech und unabhängig ist, und wieder eine andere, weil sie klug, warmherzig und treu ist. Die vielleicht, weil sie eines fernen Tages meine Witwe sein könnte, wenn ich sie heiraten würde.“
(S. 175)

Diese Zeilen schreibt Feridun an einen Freund, als er bereits mit Selma verheiratet ist. Eine Ehe in die er von seinem Vater und von Mustafa Kemal Atatürk gedrängt wurde.
Während Feridun alle Vorzüge eines freien Lebens in Deutschland als Diplomat genoss, baute sein Vater gemeinsam mit Atatürk die neue Türkei auf.

Cevat Paschas Tod könnte für Feridun eine Erleichterung sein. „Von nun an musste Feridun im nicht mehr gehorchen. Auch wenn das Anwesen, das er erbte, für immer den Namen des Vaters tragen würde, fühlte der Sohn eine Last von seinen Schultern genommen. Es war nicht leicht gewesen, der Stammhalter einer lebenden Legende zu sein. Jetzt war die Zeit gekommen, aus dem Schatten des Denkmals zu treten.“ (S. 218)
Aber irgendwie scheint ihm das nicht so recht zu gelingen. Zu sehr treibt ihn seine Sucht nach Spaß und Befriedigung. Er liebt die Jagd und die Frauen. Er ist ein echter Hedonist, der schließlich als Fünfzigjähriger einsam in einem viel zu großen Haus sitzt.
Da erinnert er sich seiner Ersatzfamilie, die den 2. Weltkrieg nicht ohne Folgen überstanden hat. Verarmt findet er sie bei einem entfernten Verwandten und es entwickelt sie ein reizendes Verhältnis zur jüngsten Tochter der Roons. Fast scheint es, als könnte Feridun zur Ruhe kommen. Zwei Jahre lang macht er ihr den Hof und nachdem alle Bedenken der Eltern zerstreut wurden heiraten Feridun und Benita, Hasans Eltern.
Leider kann auch Benita Feridun nicht halten. Schon wenige Tage nach der Hochzeit verliert Feridun jegliches Interesse an seiner jungen Frau und widmet sich wieder seinen Freunden und Freuden in ganz Europa. Doch Benita begleitet ihn bis zum Ende, um schließlich doch noch in den Genuss von trauter Zweisamkeit zu kommen.

Sehr versöhnlich scheint Benita mit ihrem Schicksal zurechtgekommen zu sein und ich habe das Gefühl, das konnte sie auch an ihren Sohn, den Autor weitergeben. Ich hatte bei der Lektüre nicht das Gefühl, dass hier mit dem Vater abgerechnet wurde. Obwohl es allen Grund dazu gäbe, glänzte er doch auch in Hasans Kindheit vor allem mit Abwesenheit. Obwohl im Buch der Bezug zur heutigen Zeit und auch zur heutigen Politik hergestellt wird, fehlt für mich die persönliche Ebene. Ich konnte nicht wirklich herauslesen, wie Hasan Cobanli zu dem umtriebigen Leben seines Vaters steht. Er scheint seine Neigung geerbt zu haben, oder ist auch er stets auf der Suche, weil ihm die Vaterliebe so selten gewährt wurde. Ich hätte mir hier ein paar deutlichere Worte gewünscht. Ist es doch das persönlichste Buch überhaupt.
Dennoch empfand ich die Lektüre als bereichernd und vor allem auch lehrreich, wusste ich doch so wenig über die Rolle der Türkei in den beiden großen Kriegen. Spannend fand ich auch, dass mir die Figur Atatürk näher gebracht wurde, als Mensch und als Politiker mit Visionen die seiner Zeit weit voraus waren.
Für mich spannt dieses Buch einen schönen Bogen zwischen Deutschland und der Türkei und verbindet dabei Völker und Generationen in einem einzigen Leben.

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