Im Januar 1933 wurde die Weimarer Republik zu Grabe getragen. Aus der Entfernung der Jahrzehnte erscheint es vielen Menschen, als hätte der Untergang von Demokratie und Anstand genau zu jenem Zeitpunkt seinen Anfang genommen. Es kann einem vorkommen, als sei eine deutsche Republik, die direkt aus der Kaiserzeit in die Neuzeit katapultiert worden war, aus dem Stand zerstört worden. Verantwortlich dafür gemacht werden häufig genug: ein verlorener Krieg, ein brüchiger Frieden mit nahezu unerfüllbaren Bedingungen und internationale Machtspiele. Die Weimarer Republik hatte in der Tat von Anfang an mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Hinzu kamen neue soziale Ansprüche, der Wunsch nach Gleichberechtigung der Geschlechter. Zunehmende Armut auf der einen Seite, rauschende Feste und künstlerische Avantgarde auf der anderen standen sich zunächst irritiert und dann zunehmend feindlich gegenüber. Rechts, links, Moderne, Sehnsucht nach Kaiser, einer Nation… Welten prallten aufeinander, oft genug buchstäblich.
Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war dennoch keineswegs der Anfang vom Ende, sie war ganz im Gegenteil das logische Ergebnis einer Reise, dem die Nachfahren fassungslos gegenüberstehen und sich fragen, wie das geschehen konnte. Eigennutz und Feigheit, Machtgier und globale Interessen trugen gewiss zum Untergang der Weimarer Republik bei. Letztlich jedoch konnte nur geschehen, was geschah, weil ein enormer Mangel an Einsicht, Vernunft und Zivilcourage im Volk möglich machte, was nie hätte möglich sein dürfen, weil man zutiefst blind auf dem rechten Auge war.
Erich Kästner sagte in seiner Rede zum 25. Jahrestag der beklagenswert berühmten Bücherverbrennung:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät….Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“
Was 1924 grollte und rollte, war noch ein Schneeball, vielmehr gab es zahlreiche Schneebälle. Alter Offiziersadel, feudale Strukturen, esoterische pseudogermanische Schwurbeleien und völkisches Gedankengut trafen auf eine Moderne, die ihren Weg noch nicht genau kannte und deshalb offen war für Extreme. In dieser Zeit nun spielt der vorliegende Roman. Dr. Heiger Ostertag, ausgebildeter Offizier und promovierter Historiker hat das Wagnis unternommen, diese Zeit für uns genau 100 Jahre später lebende Menschen sicht- und greifbar zu machen. Mit Erfolg, wie ich finde. Historische Fakten hat er eingebettet in eine spannende Kriminalgeschichte, die sich auf die Spuren der Schwarzen Reichswehr begibt. Fiktion und überwiegend historische Tatsachen und Geschehnisse gehen dabei Hand in Hand und vermitteln der Leserschaft das Gespür für eine Zeit, die lange vorbei ist – und die dennoch droht, wieder aufzuerstehen.
Besonders die Ausschnitte aus dem „Berliner Tageblatt“ zu Urteilen oder besser gesagt zu Nichturteilen in Bezug auf rechtsgerichtete Putsche, Anschläge und sonstige Untaten decken Ursachen für die politische Entwicklung jener Zeit auf und weisen mit dem Finger direkt auf unsere Zeit. Mangel an gesellschaftlichem Zusammenhalt, an Vernunft, an der Fähigkeit zu diskutieren, sich gemeinsam auseinanderzusetzen, struktureller und alltäglicher Antisemitismus: alles Kugeln, mit denen auf eine ohnehin labile Demokratie geschossen wurde – und wieder wird.
Die Sprache, der sich der Autor bedient, ist soweit möglich an die Sprache der damaligen Zeit angepasst. Ich persönlich hätte, Zeitgeschehen hin oder her, auf den einen oder anderen Begriff verzichtet. Aber das eben nicht zu tun, ist der Spagat, den konsequent umzusetzen, sich der Autor getraut hat. Dass die Sprache nicht hemmend auf den Lesefluss wirkt, sondern folgerichtig zugeordnet werden kann, ist auch der Kriminalgeschichte zu verdanken, deren Protagonisten sich mit Charakter und Humor bis zur Lösung des Falles vorarbeiten. Zudem entsprechen nahezu alle Akteure realen Personen, selbst Wedigo von Wedel als Offizier hat ein historisches Vorbild. Das hat in meinen Augen Spannung und Authentizität des Werkes nochmals erhöht. Ich habe jedenfalls Lust bekommen, auch die anderen bereits erschienenen Bücher dieser Romanreihe zu lesen.
Der Blickwinkel, aus dem heraus der Autor schreibt, darf ruhig einer konservativen Sichtweise zugeordnet werden. Man kann dafür oder dagegen sein. Sie hat in meinen Augen, bezogen auf diesen Roman, den Vorteil, dass sie Seiten und Aufgeregtheiten vermeidet und somit einen klaren Blick auf die Geschehnisse zulässt.
Spannend sind die Parallelen, die sich zur heutigen Zeit herstellen lassen, spannend und bedrückend. Dieses Buch hat mich einiges gelehrt, was ich zuvor nicht wusste. Ich empfinde es als sehr empfehlenswerten wichtigen Zeitzeugen und Mahner: Nie wieder ist jetzt!