‚Dieser Roman spielt in Osteuropa. In Wirklichkeit ist es gar kein Roman und spielt auch nirgendwo. Er erzählt keine Ereignisse, wie ein Roman sonst Geschichten erzählt, er möchte ihm nur ähneln. In Wirklichkeit erzählt er vom Reisen. Vom Reisen Kafkas, der mit Kafka nicht identisch ist. Das heißt, vom Bleiben an ein und demselben Fleck, ohne dass das Reisen seinen Sinn verlöre. In Wirklichkeit erzählt er nicht von Franz Kafka, dem Sohn Kafkas, sondern vielmehr vom Vater. Das heißt von Kafkas Vater, dem gefürchteten Hermann Kafka.‘
Ich war letztes Jahr restlos begeistert von Szilárd Borbélys Debütroman ‚Die Mittellosen‘, der 2013 im ungarischen Original und im Herbst 2014 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Den Erscheinungstermin in Deutschland und den internationalen Erfolg seines Romans hat Borbély, der vom Literaturnobelpreisträger Imre Kertész ‚der vielversprechendste und verlorenste ungarische Dichter‘ genannt wurde, nicht mehr erlebt, denn im Februar 2014 hat sich Borbély suizidiert.
Bei ‚Kafkas Sohn‘ handelt es sich um ein Romanfragment aus dem Nachlass. Ich empfand das Buch als sehr unfertig, bruchstückhaft und kaleidoskopartig, so dass mir ‚Kafkas Sohn‘ bisweilen unverständlich blieb, und ich das Gelesene zum Teil sehr verwirrend fand.
Auch wenn ich mit dem Fragment an sich schlecht zurecht gekommen bin, haben mich einzelne Passagen ähnlich begeistert wie ‚Die Mittellosen‘, da die Sprache sehr anspruchsvoll und poetisch ist, und der Autor sehr eindrücklich seine Geschichte erzählt.
So geht es im Buch z.B. vom Leben in einer Diktatur und in Elend, um Antisemitismus und Ausgrenzung, von der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen. Genau wie ‚Die Mittellosen‘ empfand ich ‚Kafkas Sohn‘ als sehr düster und unheilvoll, und die detaillierten Schilderungen, z.B. die der Gänsezucht und der Stopfleber, ebenso beunruhigend wie beeindruckend genau beobachtet und beschrieben.
Zwar empfand ich persönlich ‚Kafkas Sohn‘ als formal eher schwer zugänglich, aber nichtsdestotrotz blitzt auf jeder Seite Borbélys Talent durch, so dass ich beim Lesen große Lust auf eine erneute Lektüre seines Debütromans verspürt habe.
Heike Flemming
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Mit seinem Romandebüt "Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?" legte der ungarische Autor Szilárd Borbély eine, wie er selbst im Anhang schreibt, "eingeschränkte[...] Fiktion" vor, einen Hybriden, bestehend aus realen Kindheitserinnerungen und erdachter Handlung. In vielen kleinen Szenen, die mehr oder weniger thematisch und zeitlich miteinander verwoben sind, schildert der Erzähler, ein Junge von unbestimmten Alter, den Alltag in einem ungarischen Dorf am Ende der 1960er Jahre. In einer sprachlichen Diktion, die von unendlicher Zerbrechlichkeit und Sensibilität geprägt ist, öffnet sich dem Leser eine Welt, die zwischen Jahrhunderte alter Tradition und den Umwälzungen der kommunistischen Revolution zerrissen wird. Der Junge und seine Geschwister leben in einer Dorfgemeinschaft, die die Eltern der Kinder nicht akzeptiert, da diese "Zugezogene" sind und darüber hinaus Nachfahren von Großbauern, sog. Kulaken. Das Dorf lebt in der abgeschotteten Welt seiner eigenen Ideale und Geschwindigkeit und lehnt Veränderungen jeglicher Art strikt ab. Individuen werden nicht geduldet und ausgegrenzt, so geschehen mit den im Dorf lebenden Juden Ende 1944, so geschehen mit der Familie des Erzählers, die sich in einer sozialen Position zwischen dem Dorfkern und den Zigeunern am Dorfrand befinden. So auch geschehen mit dem Erzähler, der keinen Anschluss findet und von den anderen Kindern geschlagen und als "Jude" beschimpft wird, da das Fremde, das Unbekannte und non-konformistische Wesen der Familie eine Zuschreibung braucht, um im Kosmos der Dorfbewohner einen Platz zugewiesen zu bekommen.
Die Geschichte stellt zwei Entwürfe des Zusammenlebens antagonistisch gegenüber: zum einen die Individualität, die Einzigartigkeit des Menschen, die Freiheit der Gedanken und des Handelns. Den Wunsch nach Progression und Wandel. Auf der anderen Seite Angepasstheit, Konformismus und Verlust der Souveränität: alle Frauen sind Hausfrauen und Mütter, alle Männer arbeiten und gehen nach der Arbeit geschlossen in die nächste Kneipe. Wer sich dieser Uniformität zu entziehen versucht, wird gnadenlos ausgestoßen.
Das Plus des Textes, der dem Leser ein bedrücktes Gefühl der Empathie für den Erzähler beschert, liegt aber darin, dass er ohne jede Emphase auskommt; beinahe neutral gehalten und nur mit poinierten Parteinahmen des Erzählers versehen, legt "Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?" das Schicksal einer Familie dar, dass sich mühelos reproduzieren und auf andere Orte und Zeiten übertragen lässt. Im Anhang des Haupttextes, der von einem kurzen, mit "Verlorene Sprache" übertitelten Kommentar des Autors beginnt, spricht dieser von dem 'Wunsch, der Frage nachzugehen, wann er den Kontakt zu seinen Eltern, zu seiner Kindheit und den gemeinsamen Erinnerungen verloren hat. Und schlussfolgert, dass zu einer vollständigen Integration immer der Verrat an der eigenen Vergangenheit gehört:
"Die Migranten der ersten Generation tun alles, um die Vergangenheit zu vergessen, das Milieu, die Sprache, den Ort, den sie verlassen und den sie vergessen müssen, um erfolgreiche Migranten sein zu können. Auch das Band des Heimwehs und der Nostalgie müssen sie schonungslos zerschneiden, sonst gelingt der Versuch nicht. [...] In der zweiten Generation aber schlägt all das zurück, kommt das Geheimnis ans Licht. Denn ein Geheimnis zu haben, ist kein Segen, sagt der Talmud."
Das Leben in Freiheit hat seinen Preis, doch dafür einzustehen und zu kämpfen, erfordert mehr Mut und Entschlossenheit, als sich zu fügen und den eisernen Regeln einer hermetisch abgeriegelten Gemeinschaft unterzuordnen. Insofern ist dieses Buch ein Appell an die Freiheit und ein Zeugnis einer Generation, die mit den damit verbundenen Opfern wie keine andere umzugehen gezwungen war und ist.
Die als zweites Buch der Trilogie „Einfache Geschichte Komma Hundert Seiten“ angekündigte „Markus-Version“ erweist sich bei genauem Hinsehen - wen wundert´s - als gar nicht so einfach zu lesen.
Ein kleiner Junge schildert seinen Alltag in der ungarischen Provinz und das Verhalten seiner Familienmitglieder, so, wie er es versteht. Seine Familie, von Kommunisten im Nachkriegsungarn aus ihren Berufen vertrieben und von Budapest aufs Land zwangsumgesiedelt, haust hier nun zusammengepfercht in einem Zimmer und muss bei der Landarbeit helfen. Sehr genau beobachtet der kleine Protagonist, der seine Familie lange in dem Glauben lässt, stumm zu sein, seine Umwelt: den Vater, der trinkt, „weil er sein Leben nicht findet“; die schweigsame Mutter, seinen Halbbruder Peter, Mari, das Nachbarmädchen. Seine christliche, sehr fromme Großmutter hat für ihn große Bedeutung. Sie kann nämlich „auf eine Weise von Gott erzählen, dass es unbegreilich wird, dass er nicht sein soll.“ Er verknüpft die frommen Heiligenlegenden und die Gebete seiner Großmutter mit dem Alltag, wie er ihn erlebt, und verbindet ihn mit der Geschichte des Markus-Evangeliums. „Das ist der Beginn. Beten konnte ich früher als sprechen.“
Sein unbedingter Glaube an Gott weicht im Verlauf des Romans kritischeren Gedanken, Zweifeln, Hoffnungen - einer kindlich naiven Gottsuche. Denn da kommt auch noch eine andere Großmutter ins Spiel, die seines älteren Halbbruders. Sie ist jüdischen Glaubens und hat ebenfalls einen Sohn verloren, (wie auch die christliche Oma); allerdings unter anderen Umständen.
Esterházy schreibt in klaren, schlichten Sätzen, gut verständlich. Sein autobiographisch gefärbter Roman ist mit Bibelsprüchen und Zitaten anderer Autoren bereichert und in wirklich sehr kurze, numerierte Abschnitte eingeteilt, die an die Struktur einer Bibel erinnern. Aber man darf sich nicht täuschen lassen: jedes einzelne Kapitel fordert zum Nach- und Weiterdenken auf !Gespräche aus der Community
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